Liebe
Gemeinde,
„Entblößt“ – so lautet der
Titel des Bildes, das ich Ihnen für den heutigen Karfreitag mitgebracht habe.
Georg Meistermann, Maler und Dichter, hat es als eine Kreuzwegstation gestaltet.
Ein Hemd, aufgespannt und mit nach oben abgewinkelten Schultern, leere Ärmel;
drei Würfel hingeworfen, ein sichelschmaler schwarzer Schatten, der von der
rechten Seite kommend bald das ganze Kreisrund überziehen wird.
„Entblößt“ ist der Körper,
den das Bild nicht zeigt, aber auf den das Kleidungsstück verweist. Obgleich
abwesend ist der entblößte Leib anwesend, wir wissen darum, wir haben es gehört:
„Und als sie an den Platz
kamen, welcher Schädel heißt, kreuzigen sie dort ihn und die Verbrecher, den
einen zur Rechten, den anderen zur Linken...Sie aber warfen das Los, um seine
Kleider unter sich zu verteilen. Und das Volk stand da und schaute zu.“
Mit einfachen Worten, sehr
schlicht und undramatisch, wie ein nüchterner Chronist beschreibt Lukas das
Geschehen auf Golgatha. Menschen werden hingerichtet, unter ihnen auch Jesus.
Das wenige, was von ihm blieb, seine Kleidung, wird wie Beutegut verteilt.
Ein Hemd und drei Würfel, aber keine Menschen sind zu sehen. Aber es waren
Menschen, die um das letzte Hemd des Opfers spielten, ein Spottspiel, grausam.
Es war nicht das erste, das sie mit ihm spielten. Zuvor schon hatten sie ihn
geschlagen und verspottet, fanden es amüsant, ihm eine Dornenkrone aufzusetzen.
Es reichte nicht, ihn nur hinzurichten, nein sie zogen noch einen Lustgewinn
aus seinem Leiden. Was sind das für Menschen?
Eine doch naheliegende Frage,
nicht wahr? Aber es kam keiner daher, so zu fragen:
„Was seid ihr nur für Menschen?“
Es kam keiner, um einzuschreiten,
an die Seite des Opfers zu treten, keiner, der Einhalt gebot, parteilich wurde.
Es wäre auch die Ausnahme gewesen, damals und bis auf den heutigen Tag. Und
es war und ist wahrlich nicht immer die viel behauptete Angst, selbst drangsaliert
zu werden, die die menschliche Solidarität so rar macht. Warum reicht unser
Interesse sooft nicht über die Grenzen der eigenen Person? Warum sind wir
nicht interessiert, d.h. von „inter-esse“ ja wörtlich genommen da-zwischen-sein?
Warum gehen wir so ausnahmsweise nur dazwischen? Gucken weg oder stehen von
ferne. Und wenn wir hinzutreten, dann aus Neugier, wenn nicht sogar noch aus
anderen Motiven.
Was sind wir für Menschen?
„Und das Volk stand da und
schaute zu.“
Es hat sich nicht geändert
bis auf den heutigen Tag: Hinrichtungen anzugaffen, gehört zu den Abgründen
der menschlichen Natur. Zu den Hexenverbrennungen der frühen Neuzeit strömte
eine gierige Menge; mit Angstlust drängte sich das Volk zu den Guillotinierungen
des revolutionären Frankreich. TV-Übertragungen von Hinrichtungen sind in
den Vereinigten Staaten, doch immerhin eine zivilisierte Nation mit einer
langen Tradition der Menschen= rechte, ein Publikumsmagnet.
„Und das Volk stand da und
schaute zu“:
Als 1938 hier in Deutschland
nicht nur die Synagogen brannten, sondern Menschen geschlagen, gedemütigt,
verschleppt wurden, Juden und Jüdinnen, die eben doch noch Nachbarn und Bürger
waren, da rührte sich kaum eine helfende Hand und erhob sich nur vereinzelt
eine Stimme für sie – man stand da und schaute zu, wenige nur mit wenigstens
innerer Abscheu, viele in Gleichmut, ja stummer Genugtuung und Häme.
Daß das
Recht es mit der Stärke und den Starken hält, scheint ein geschichtliches
Gesetz, das deshalb so ehern ist, weil es sich immer wieder verwirklicht und
so selten nur durchbrochen wird. Die Logik der Sieger und der Siegertypen
spricht so:
„Andere hat er gerettet;
er rette sich selbst, wenn er der auserwählte Gesalbte G“ttes ist.“
Wer sich nicht retten kann
oder gerettet wird, der ist eben nicht im Recht.
Und so hat das Opfer zum
Leid auch noch Unrecht, ist zu Recht ein Opfer.
Ausgemacht auch,
daß
G“tt auf der Seite der Sieger steht. Und wohl deshalb wird der biblische G“tt,
der G“tt Israels und Vater Jesu Christi, in dieser Welt nicht mehrheitsfähig,
weil Er sich verweigert, den Mächtigen an die Seite zu treten - vielmehr in
die Abgründe des Scheiterns mit hinabgeht und die Machtlosigkeit vermag.
Macht erhält sich und Sieger
bleiben obenauf, weil es genug derjenigen gibt, die mittun, mitlaufen, mitsiegen,
wenigstens ein bißchen. So wie die feixende und
würfelnde Soldateska. Kein Herr ohne Knechte. Aber weil es die Knechte zu
kaum einer anderen Hoffnung als zu der bringen, selbst einmal Herren zu sein,
endet das grausame Spiel nicht.
In der Mitte der Szene der
Entblößte, Machtlose, mit nichts angetan als mit seinem G“ttvertrauen und
mit seiner Liebe, immer noch. Er stirbt und bleibt doch zugewandt denen, die
um ihn sind. Er stirbt nicht wortlos, kein stummes Opfer, sondern eines, das
seine ganze Umgebung auf sich bezieht, sich auf alles und alle um ihn herum
bezieht. Wer und was sie sind, wird an ihm deutlich, mit und ohne seine Worte.
Sein erstes Wort:
„Vater vergib ihnen, denn
sie wissen nicht, was sie tun!“
Nicht ein blutiges Opfer,
vielmehr eine Fürbitte, Jesu Fürsprache verbindet sich mit G“ttes Versöhnung.
Seine Bitte eröffnet Raum, spannt und hält ihn auf, daß Vergebung sein kann. Wer auf ein Dort, ein Jenseits der
Schuld verwiesen ist, kann auf das Getane zurückkommen: es sehend, annehmend,
bereuend.
Der Machtlose in der Mitte
schafft Raum: Raum für G“ttes Vergebung, Raum, sich zur eigenen Schuld zu
verhalten, Raum umzukehren.
Jesu Bitte verhilft so dem
einen der beiden Übeltäter, seiner Schuld ansichtig zu werden. Der Verurteilte
gewinnt Abstand zu sich, ohne sich zu verlieren. Zwischen sich und die angenommene
Tatschuld erbittet er einzig das Gedächtnis Jesu, das wäre ihm alles zur Seligkeit.
Es wäre die unendlich kleine und unendlich große Differenz zwischen Tat und
Person: mehr und anders als die Summe der Taten zu sein. „Gedenke meiner,
wenn du in dein Königreich kommst!“ „Nimm mich mit in deine Zukunft, dann
habe ich Zukunft.“
Er
überläßt sich und alles Seinige dem, der auch für ihn um Vergebung
gebeten hat; gibt sich auf und in die Hände eines Anderen, so wie auch Jesus
es tut: „Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist“.
Und ist frei: frei von der
geschlossenen Innerlichkeit, die - sei es in Zerknirschung, sei es in Selbstrechtfertigung
- immer im Banne der vergangenen Schuld gefangen bleibt. Deshalb kann Jesus
diesem der beiden Mitgehenkten zusagen:
„Amen, ich sage dir: heute
wirst du mit mir im Paradiese sein.“
Dort, wo uns ein Anderer,
ein ganz Anderer von jenseits unserer Taten her ansieht.
Und da ist der andere Täter,
der sagt:
„Bist du nicht der Gesalbte?
Rette dich und uns!“
Einer, der den weiten Raum
der Vergebensbitte nicht zu nutzen weiß, nicht in ihn eintritt, sondern im
Zynismus eingeschlossen bleibt.
Immerhin, eine Bitte um
Rettung stößt er aus. Aber da er nicht ganz in sie eingeht und nach zwei Seiten
hin laviert – G“tt gibt es wohl nicht, aber es kann nicht schaden, es mit
Ihm nicht zu verderben – antwortet Jesus ihm nicht.
Um die Achse seiner Fürbitte
zur Rechten und zur Linken sind zwei Schuldige versammelt, die verschieden
auf ihre Schuld sich beziehen.
Zwei Täter, die zu Opfern
geworden sind.
Sind alle Täter auch Opfer?
„Denn sie wissen nicht,
was sie tun!“
Nicht ganz unmöglich, dies
Wort, mit dem Jesus seine Fürbitte begründet, als einen allgemein entschuldenden
Satz zu verstehen, der die Grenzen zwischen Tätern und Opfern einreißt, weil
die Täter Opfer ihrer Unwissenheit geworden sind.
Lesen wir ihn, liebe Gemeinde,
anders, lesen wir ihn kritisch, nämlich macht-und siegerkritisch, also biblisch. Es ist ein demütigender
und darin befreiender Satz. Der Tatstolz der Menschen, unser Tatstolz, wird
hier gebeugt, gedemütigt; denn wir wissen nicht um die Tiefendimension und
die Ganzheit der Folgen unseres Tuns. Wir können es nicht ausloten, weder
vor noch nach dem Handeln, was wir anrichten, was alles wir auf den Weg bringen.
Wir sind nicht Herr oder Herrin im eigenen Haus, weder wissen wir um die Motive
unseres Tuns in der gleichen Klarheit, die zu sehen wir behaupten, noch wissen
wir, wie sich unser Tun mit der komplexen Wirklichkeit verschlingt.
Jesu Wort stürzt uns in
eine Krise, denn es ist ein Wort, das uns entmächtigt, aus der Zentralperspektive
unserer Selbstsicherheit entrückt. Es ist ein Wort, das uns erschrecken kann,
erschreckt: wir haben mehr und anderes getan, als wir zu tun glaubten. Es
führt uns ins Dunkle unserer unaufgedeckten Schuld.
Es ist ein uns überführendes
Wort im doppelten Sinne:
wir werden mit der Tiefendimension
unseres Tuns konfrontiert, ins Dunkle geführt und doch auch wieder hinausgeführt,
weiter mitgenommen dorthin, wo Vergebung zugesprochen wird. Von dort kommen
wir auf unser Dunkel zurück, um es mit G“ttes Hilfe aufzudecken
Dietrich Bonhoeffer, dessen
60. Jahrestages seiner Ermordung wir in einem Monat gedenken, schrieb in seiner
Gefängnisschrift „Widerstand und Ergebung“:
„Wenn Jesus Sünder selig
macht, so waren das wirkliche Sünder, aber Jesus machte nicht aus jedem Menschen
zuerst einmal einen Sünder. Er rief sie von ihrer Sünde fort, aber nicht in
ihre Sünde hinein.“
Von rechts her breitet sich
der schwarze Schatten nach und nach über das ganze Rund. Bald wird er zunächst
das Hemd und dann die Würfel bedecken – und dann wird dem Sterben das Ende
bereitet sein.
„Und es war schon ungefähr
die sechste Stunde, da kam eine Finsternis über die ganze Erde bis zur neunten
Stunde, da die Sonne erlosch.“
Die Dunkelheit nimmt zu,
bis sie alles bedeckt. Eine Finsternis, wie ein Zeichen der Trauer für eine
Menschheit, die sich im Nichtwissen ihres Tuns verstrickt hat; deren unaufgedeckte
Dunkelheiten nun endlich zutage treten und alles Licht auffressen. Nun sind
unsere Dunkelheiten unausweichlich geworden. Wir bewegen uns deshalb auf die
Wahrheit zu.
Mitten in die ausgespannte
Dunkelheit hinein bekennt der Hauptmann seine
Menschenkenntnis:
„Dieser Mensch war wirklich
ein Gerechter.“
Mitten in der Dunkelheit
ereignet sich Wahrheit.
Mitten in der Dunkelheit
schlagen sich die Menschen an die Brust, die Geste ihrer Reue, denn sie sehen
ins Dunkle ihrer Schuld. Sie sehen ihre Schuld erstmals an, in sie hineinsehend,
sie einsehend – und dann kehren sie zurück. Ganz und gar doppeldeutig drückt
sich Lukas zum Ende seiner Kreuzigungsschilderung aus. Unter der drückenden
Last der Sonnenfinsternis schleichen sie nach Hause, einerseits; aber ihre
Rückkehr bedeutet auch, daß sie umkehren und sich
abkehren: von ihrer Gleichgültigkeit, ihrer Häme, ihrem Mitläufertum.
Das grausame Schauspiel
ist aus. Über alle ist der Schatten der Schuld gekrochen, da steht niemand
á part, beiseite.
Es bleiben ein Kleidungsstück
und drei Würfel zurück, stumme Zeugen des Geschehens, die auf das verweisen,
was und wer da entblößt wurde.
Stumme Zeugen sind auch
die Freunde Jesu und die Frauen, von denen es heißt, daß sie von ferne stehen und das Geschehen betrachten. Selbst
die Nächsten halten auf Abstand. Menschenverlassen, menschenentblößt ist der
Gekreuzigte.
So fern die Nahen, in Seiner
Ferne aber nah:
der Ewige, nicht ferner
als der Gebetsruf:
„Vater, in deine Hände befehle ich meinen Geist.“
Amen.
Liturgie
der Predigt