Liebe
Gemeinde,
Vergangenheit, die nicht vergehen will:
zumal dann, wenn wir trauern. Wir wenden uns zurück
und wenden unsere Trauer dorthin, wo unser Liebstes begraben liegt. Wir gehen
zum Grab – wie die Frauen, die Jesu Grab aufsuchen.
Dort liegen die Hoffnungen,
die unerfüllt blieben, die Fragen, auf die keine Antwort gegeben wurde, unser
Streiten und unsere Geselligkeit, das, was Fragment blieb und das, was wir
vollenden konnten, soweit wir Menschen das vermögen, – unterm Stein versiegelt,
unerreichbar, unwiederholbar. Wir wenden uns unserer eigenen Lebendigkeit zu,
die dort unten versiegelt liegt. Schwer nur verabschieden wir uns von ihr, die
ja die unsrige ist. Ein Verdacht schleicht sich zu uns, wir wären treulos,
gegen das Liebste und gegen uns selbst, wenn so bald wir uns der Zukunft wieder
zuwendeten. Und unter der Selbstverdächtigung hockt die Angst, es bliebe uns zukünftig
nur die Leere: ein Leben, das sinnentleert seine Momente aneinanderreiht.
So leben Trauernde manchmal wie mit dem Rücken
zur eigenen Lebenszukunft; die Augen und Gedanken sind aufs Vergangene
gerichtet.
Vergangenheit, die nicht
vergeht: sie greift durch die Gegenwart auf die Zukunft über und unterwirft sie
sich. Unser Leben vergeht, weil unsere
Vergangenheit nicht vergehen will.
„Leben muß
ja weitergehen“, ein letztlich doch sehr trauriger Satz, nicht wahr?
Denn, wer ihn sagt, ist dem Leben, das in die Zukunft hinein
sich bewegt, noch nicht wiedergekehrt.
Auch Maria, die Mutter Jesu,
und Maria aus Magdala sind solche Menschen, die trauern. Die sich von ihrer
Lebenszukunft abwenden und zum Grab zurückkehren, dort, wo ihr Liebstes
besiegelt ist und Jesu Leben zur Vergangenheit wurde.
Die Zukunft aber hat begonnen.
Die Bewegung der beiden
Frauen, die sich zurückwenden, wird jäh von einer anderen Bewegung
unterbrochen. Sie durchkreuzt vom Himmel hoch nach unten fahrend die Trauer der
Frauen. Ein Engel mit mächtigem Getöse kommt herab. Die Erde bebt und öffnet
sich, dem Himmel entgegen. Begegnung in der Vertikalen – eine Erde, die sich
dem Himmel zu auftut, ein Himmel, der zu ihr hin sich öffnet. Wo sich Himmel
und Erde berühren, erscheint ein Engel, so plötzlich grell wie der Blitz und
glänzend weiß wie der Schnee. Geblendet, wer ihn ansieht, zumal dann, wenn die
eigenen Augen sich lange ans Dunkel der Trauer gewöhnen konnten.
Überhelle am frühen Morgen, daß die Morgenröte erblassen
muß. Es ist der erste Tag der Woche, Schabbat
ist gegangen, alles und alle haben geruht. G“tt, Israel und auch die Engel. Die
Arbeit kann wieder beginnen.
Sie hat schon begonnen; der
G“tt des Lebens hat sein Liebstes aus dem Tod zu Seinem Leben befreit. Ein
Leben, das frei von Tod und deshalb frei von Angst ist. So hat die Zukunft also
bereits begonnen. Die Engel wissen es schon. Jetzt müssen sie es weitersagen
und den Trauerstein wegwälzen. Einer tut es, ausgeruht vom Schabbat
der Tatruhe; er setzt sich auf den Stein wie auf einen Thronsessel über dem
Grab. Licht ist er, und alles, was er tut, ist leicht.
Das leere Grab unter sich,
beginnt er die horizontalen Bewegungen neu zu ordnen und anzuweisen. Hier und
Dort werden streng geschieden, vertragen sich nicht
und haben nichts miteinander gemein.
Hier: das ist das Grab, der
Ort der Trauer, die Vergangenheit gewordene Lebendigkeit. Hier, wo das Leben
vergangen ist, ist der Tod Gegenwart.
Und dort: das ist da, wohin
Jesus, der Auferweckte, schon vorausgegangen ist.
Dort, wo einzig Leben ist,
welches kein Tod mehr betreffen kann. „Eia, wärn wir
da“, ach wären wir doch schon da!
Sie, die Frauen, sollen es
den Jüngern weitererzählen und sich allesamt dorthin aufmachen, wohin ihr Herr
vorausgegangen ist. Denn hier ist er nicht mehr, hier in den Ort des Todes
gehört er nicht mehr, hier hat er außer seinen Begräbnisbinden und -tüchern
wahrlich nichts mehr verloren. Ganz und gar sinnlos ist es, in hier noch suchen
zu wollen.
Wunderbar,
daß der Himmelsbote so ganz
ins Horizontale und Irdische sich hineindenkt. Da wird niemand nach oben
gelotst, sondern ins Jenseits der eigenen konkreten Zukunft hier auf Erden.
Dort, wohin die Frauen und Jünger gehen sollen, dort, wo Jesus schon ist, das
ist die Gegend von Galiläa. Dort begegneten sie erstmals Jesus, dort begann er
öffentlich zu lehren und Menschen zu sich zu rufen, ihm zu folgen, mit ihm
zusammenzuarbeiten. Das Dort, wohin sie aufbrechen werden, ist die konkrete
Lebenswelt ihrer Arbeit fürs tägliche Brot und für den täglichen Fisch.
Nicht mehr hier, sondern dort: so kehrt der Engel die Bewegungsrichtung der Frauen
um und bringt sie auf den Weg.
Wer zurückbleibt, sind die
Wächter, wer zurückbleibt, ist ein Wächter. Weggestürzt in ihre Angst, sind sie
wie tot.
Wer sind die Wächter?
Abgestellt von der
Jerusalemer Tempelaristokratie sollen sie einem möglichen Leichenraub der
Jünger vorbeugen, die dann die Mär verbreiten könnten, Jesus sei auferstanden.
Abgestellt von einer
skeptischen, demoralisierten Gruppe, die mit G“ttes Handeln nicht mehr rechnet
- nur noch mit dem Menschen und dem, was er bewirken kann.
Die Welt der Wächter ist
fugenlos dicht gegen alles Drüben und Droben, sie glaubt an das, was vor Augen
ist, aber bald dahin muß. Sie hält Schritt mit dem
Vergehen aller Dinge und lehnt sich nicht auf.
Sie fürchtet sich vor der
Phantasie, sagt Eindeutiges gleich zweimal, damit auch ja nichts
dazwischenkommt, z.B.:
„Tot ist tot“.
Das hält die Wächterwelt für
einen Erweis ihrer Realitätstüchtigkeit, obgleich es nur ihre Angst beweist, es
könnte einmal ganz anders kommen.
Wir leben
in der Wächterwelt, sehr oft, viel zu oft. Von allen Gewißheiten,
die wir wissen, ist uns die Todesgewißheit die
verläßlichste; gegen sie kommt unser österlicher Glaube nur
schwer auf. Gnade ist es, wenn der Glaube schwerer wiegt.
Ich betrete das Zimmer von
Frau K. Pankreas-Carzinom, Endstadium, „infauste Prognose“, so heißt das im Medizinerlatein, zu
deutsch: „ungünstige Entwicklungsvoraussage“, zu deutsch: in
4-6 Wochen wird die Patientin tot sein; das ist gewiß
und unumkehrbar. Unendlich traurige Augen sehen mich an.
Ich sehe die Todkranke an
und versuche, mit ihrem Blick mitzugehen. Ich sehe sie auf ihren Tod hin an.
Ich möchte sie aufs Leben hin ansehen, möchte mit derselben Gewißheit,
mit der ich ihre baldige Nacht sehe, sie auch im Licht ihrer zukünftigen
Auferweckung sehen. Ich möchte es so sehr – aber es gelingt mir nicht, nicht an
diesem Tag: „Herr, ich glaube, hilf meinem Unglauben.“
Gnade ist es,
daß
das Grab Jesu leer ist. Denn so wird unsere Todesgewißheit
ins Wanken gebracht. „Kommt doch her und seht selbst“, sagt der Engel zu den
Frauen. Aber der Blick der Trauernden geht ins Leere, an die Stelle dessen, was
uns so gewiß schien und was gewißlich
zu erwarten war, ist die Leere getreten. Das
Allergewisseste, der Leichnam Jesu, ist nicht da. Was Wunder, das der Erdboden
nachgibt, da doch der Boden unserer Gewißheiten ins
Wanken geraten ist. Was Wunder, daß die Wächter
gleich Toten hinstürzen. Und was für ein Wunder, daß
die Frauen nicht fielen, sondern sich aufmachten, zwar noch mit Furcht, aber
auch schon in großer Freude – auch ihr Glaube
muß sehr groß gewesen sein.
Und befreiend ist es, daß das Grab Jesu leer ist.
„Mitten wir im Leben sind von dem Tod umgeben“, so heißt es in einem alten Lied; sind wir vom Tod
umstellt und eingekreist. So todverschlungen sind unsere Lebenserfahrungen,
daß uns da nur Eines frommt: G“tt nimmt das neue,
auferweckte Leben aus der Höhle des Todes, nimmt es weg aus allem Hier und
Jetzt, das wir kennen. Zieht es aus dem Kreis unserer gewöhnlichen Erwartungen
und rettet es nach dort. Hier bleibt uns erst einmal die Leere und das Nein:
nein, hier ist er nicht.
Aber von dort wird er
kommen, uns zu begegnen. Denn der Auferweckte will sein neues, ewiges Leben
nicht für sich behalten, er will es mit uns teilen.
Wann wird das sein?
Heute und in alle Ewigkeit.
Und
wieder treffen da zwei Bewegungen aufeinander. Die Frauen, die in ihre Zukunft
nach Galiläa vorauslaufen, und Jesus, der von dort ihnen entgegenkommt. Und
nun fallen die Frauen nieder, aber nicht
weil der Boden ihrer Gewißheiten schwankt. Anbetung
ist es und Ehrfurcht vor G“tt, Der ankommen ließ, worauf sie hofften. Und wenn
noch etwas der alten Furcht in ihrer Ehrfurcht gewesen sein sollte, so nimmt
Jesus sie weg:
„Fürchtet euch nicht“.
Weiter ziehen sie, ohne
Furcht, angstfrei, denn sie sind dem vom Tode befreiten Leben begegnet. Es
kommt von dort, wohin wir allererst noch unterwegs
sind.
Und es kommt zurück auf uns
hier, die wir noch vom Tod umfangen sind; Christus, der uns begegnet, geht in
seine eigene Vergangenheit zurück. Er vermag das, er kann die Grenze zur
Vergangenheit überschreiten.
Es hat nämlich die Zeit ihre
Gewalt über ihn eingebüßt, weil der Tod an ihm seine Macht verlor.
Denn, nicht wahr, hat nicht
noch stets der Sensenmann auf der
Sanduhr gestanden und es gemacht, daß die Sandkörner
unserer Lebensaugenblicke unaufhörlich und unaufhaltsam aus der Zukunft in die
Vergangenheit wegrieselten? Nicht die Zeit für sich genommen ist tödlich, es
ist der Tod, der die Zeit vergehen macht – frißt
unsere Zukunft und spuckt sie als Vergangenheit aus. Was eben noch nicht war,
rinnt durchs Jetzt und ist schon nicht mehr, bald vergessen. So vergeht unsere
Zeit, über die der Tod Macht hat.
Und verliert seine Macht, wo immer wir dem österlichen Leben begegnen.
Von dort her verändert sich
unser Verhältnis zur Zeit: wir können
abschiedlich leben, kommen und gehen lassen – denn der Tod
hat seine Grenzmacht verloren. Dem Augenblick müssen wir keine Gewalt mehr
antun, weil wir uns fürchten, es könnte schon bald alles aus sein. Was war,
können wir hinter uns lassen, denn G“tt wird mit uns noch einmal darauf
zurückkommen.
Und aus der Zukunft her muß uns nichts ängstigen, denn dort ist er, der
Auferweckte. Schon jetzt will er uns berühren mit seinem österlichen, todfreien
Leben. Deshalb geht er uns entgegen. Wir können es berühren, wie die Frauen,
festhalten und haben können wir es nicht.
Aber selig sind wir, wenn er
sich uns mitteilt -
heute und in Ewigkeit.
Amen.
Und der Friede G“ttes, der
höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen
und Sinne in Christus
Jesus.
Amen.
Liturgie
der Predigt