Unter dem Pflaster liegt der Strand

tod - wissen - sexualität

Assoziationen zum Verhältnis
von Kunst und Gestaltungstherapie,
Bild, Sprache & Primärprozeß
*

Rudolf Süsske

Teil 1
Von der Aufsässigkeit der Bilder
Teil 2

B."Unter dem Pflaster
liegt der Strand"

Ich möchte Sie einladen, Gedankengängen zu folgen, die sich nicht ganz dem Realitätsprinzip des klinischen Alltags fügen. Darstellung ( des Vortrages: 'Von der Aufsässigkeit der Bilder' (Dr. med. E. Schiffer ) und eigenes Weiterdenken verbinden sich hier zu einem - durch Bilder angereicherten - Text, der sich ein Nachfragen wünscht. Anmerkungen zum Vortrag sind im (kursiven) Darstellungsteil mit Komm (nicht kursiv) gekennzeichnet, der Rest ward in eigener Verantwortung formuliert, obgleich man nie genau weiß, von woher einem die Gedanken zufliegen. 

A. "Von der Aufsässigkeit der Bilder"

Dr. Eckhard Schiffer berichtete von Patienten, deren Therapie unter Verwendung gestalterischer Mittel stattfindet bzw. -fand. Dem stellte er einige allgemeine Überlegungen über das Verhältnis von Kunst und Gestaltungstherapie, Bild und Sprache voran.
Es gibt zwar die berühmten Sammlungen von Bildarbeiten psychiatrischer Patienten (Prinzhorn, Navratil), aber der systematische Einsatz gestalterischer Therapiemethoden ist trotzdem immer noch Neuland, mehr noch die begriffliche Durchdringung dieses Feldes. Begriffe sollen hier nicht einzwängen und "abschließen", sondern Erfahrungen transparenter machen.
Die Verwendung des Begriffes Kunst im psychotherapeutischen Zusammenhang sei aber - so der Vortragende - problematisch: Bei Patienten mit hochgespanntem Ich-Ideal bedeutet die Konfrontation mit Kunst ein Anheizen ihrer Leistungsproblematik. 

(Komm: Dies trifft sicher nicht nur auf diese Gruppe zu, die Bereitschaft, sich mit Kunst auseinander- zusetzen, hat auch viel mit der Vorerfahrung, Schichtenzugehörigkeit u.a. zu tun sowie dem Vermögen von Therapeuten, Vorurteilsstrukturen - besonders moderner Kunst gegenüber - zu unterlaufen .) 
Kunsterfahrung gilt es zudem in
a) Rezeption von (vorgegebenen) Kunstwerken und 

b) eigene Kunstproduktion zu differenzieren. 
Rezeption meint dabei aber nicht passive Aufnahme, sie ist in sich selbst schon aktive Interpretation. (Komm: Die Interpretation kann nun wiederum in zwei - polaren - Richtungen erfolgen: Bildanalyse nach Stil, formalen Mitteln, Motive, Traditionsbezug u.a. oder sie nimmt die eigenen Erfahrungen, Stimmungen, Anmutungen und Assoziationen i.S. einer "phantasierenden Bildbetrachtung" in Anspruch.)

Therapeutisch steht mit Recht die eigene gestalterische Produktion im Vordergrund. Sie ist aktive Selbstdarstellung und damit ein Schritt aus dem passiven, leidenden Objektstatus heraus. Zudem gibt sie Gelegenheit, sich gesamt-leiblich mit Lebensgeschichte, Konflikten und Gefühlen auseinander- zusetzen. Diese Arbeit mit dem Titel "künstlerische Therapie" zu versehen (so Petersen, 1992) fördert eher die Widerstände des Patienten und entleert den Begriff der Kunst: Kunst ist Kreativität (doch nicht allein), nicht alle kreative Gestaltung bedeutet Kunst. Der Begriff Gestaltungstherapie scheint deshalb nicht nur bescheidender, sondern auch angemessener zu sein. (Komm: Dies würde auch Petersen von der Aufgabe entlasten, Kunst von traditionellen Vorurteilen zu befreien z.B. dem klassizistischen Ideal vom Guten, Wahren und Schönem, dem Gedanken der Harmonie. Petersen erliegt diesem Vorurteil aber an anderer Stelle selbst, wo er - neben der modernen - gerade die vorgriechische Kunst und Mythologie ins Spiel bringt. Das kann hier nicht ausgeführt werden, aber es sei daran erinnert, daß "Harmonia" nicht nur die Tochter Aphrodites (Göttin der Liebe), sondern auch der Ares', dem streithaften (Kriegs)-Gott, war.)
"Malen hat für mich deutlich die Nebenbedeutung des Widerstandes gegen meine Eltern, der Rebellion gegen Autorität, auch gegen die innere Autorität, gegen mein Pflichtgefühl, mein 'Überich'". Mit diesem Zitat aus Piet C. Kuipers "Seelenfinsternis" (1991) kommt der Titel des Vertrages - die Aufsässigkeit der Bilder - zur Sprache. Kuiper malte seine Bilder als er sich - mittels Medikamente aus der Phase der endogenen Depression bereits herausgearbeitet hatte. Dennoch bedeutet das Malen für ihn nicht eine einfache Beschäftigung im Genesungsprozeß .

 

Für E. Schiffer gilt die "Aufsässigkeit der Bilder" besonders bei "bösartigen Introjekten", die zwar als ichfremd erlebt werden, von denen sich der/die Patient/in aber nicht befreien kann. Sind diese sedimentierten Erfahrungen mit einem Tabu behaftet, kann das Malen des Tabus (z.B. überwachende Augen und ein Mund, der durchgestrichen ist - bei der Patientin Sarah) etwas ausdrücken, mitteilen, ohne zu sprechen. Dh. das Tabu wird eingehalten und dennoch übertreten.

(Komm: Zur Ergänzung: H.Junge (1990) berichtet von einer 51 jährigen Patientin mit schwerer Depression. Diese malte "ein Bild mit vier großen gelben Blumen, die wie Osterglocken aussahen (Abb.1). In einer früheren Therapiestunde hatte sie ein Bild gemalt, auf dem eine ausgestreckte Hand vergeblich nach einem Blumenstrauß griff. Ein Depressionsteufel, den sie neben die Hand gemalt hatte, hinderte sie daran, die Blumen zu ergreifen (Abb.2)".

abb. 1 abb. 2

Während des Malens und des Betrachtens des Bildes weinte sie, erstmals seit langer Zeit. Später wurde von einer Patientin berichtet, die zeichnete einen wiederkehrenden Traum: sie liegt im Bett und eine große, gefährliche Gestalt nähert sich; sie erwacht im Traum und stellt verwundert fest, selbst neben dem Bett zu stehen.
Im Gespräch war es ihr nahezubringen, daß die gefährliche Gestalt ein Aspekt ihres eigenen Wesens sei, der Traum vergleichbar dem pavor nocturnus aus der Kindheit.
 

 

Wir haben es hier mit einem dreifach gegliederten Gestaltungsprozeß zu tun: dem manifesten, erinnerten Traum, der sich einer "Traumarbeit" verdankt; der Umsetzung in gemalte Bilder und einer gemeinsamen Deutung der Traum-Bilder im Gespräch. Der latente Traum- gedanke (Original) zeigt sich -so Freud- immer in "Verkleidungen". Aber vielleicht ist das Original eine Fiktion, die Kommentare sind selbst der Urtext, gehalten durch einen Sinn, der sich am Ende -in der Zukunft- (der Therapie) erst konstituiert.

Im Gestaltungsprozeß wirken Primär- und Sekundärprozeßhaftes zusammen; der Primärprozeß gibt infantiles Material in einer "wilden Ordnung" - ohne Rücksicht auf Raum, Zeit und Kausalität in der "Realität" - vor, das aber gebändigt werden muß, um in der Wirklichkeit der therapeutischen Situation überhaupt zur Darstellung kommen zu können. 

(Komm: Der drängende Impuls z.B. droht zur aggressiven Handlung zu werden, die Denkidentität des nur Phantasierten droht, in die Herbeiführung einer "Wahrnehmungs-identität" - dh. Realisierung der Phantasie - umzuschlagen.)
Dem Patienten M. ermöglicht das Malen dieser Phantasien, in immer neuen und anders gestalteten Bildern eine gebändigte Realisierung. Die Bilder sind nicht die aggressive Tat, aber sie "bedeuten" sie; ihre Produktion lenkt den leiblichen Impuls in eine sozial verträgliche Tat um, wobei das nach Agieren rufende Moment aufge- nommen wird, was das Phantasieren allein nicht vermag. 

 

Es gibt eine Wahrnehmungsidentität zweiter Art, einen Kompromiß. Insofern wären die Bilder induzierte Symptome, aber solche die verträglicher sind und eine Bearbeitung erlauben. Das letzte Bild M.s zeigt eine postapokalyptische Landschaft mit einem Flöte spielenden Mädchen, das dem Betrachter den Rücken zukehrt - der Krieg ist aus, die Trauer bleibt. M. ist Kunstmaler, das Malen der Phantasien knüpft so auch an vorhandenen Ichleistungen positiv an.  Andere Patienten müssen für diese Art des Ausdrucks oft erst gewonnen werden.
Das Zusammenspiel von Primär- und Sekundärprozeßhaftem befreit von der Diktatur des Primärprozesses (Trieb- bestimmtheit und drängende Gegenwärtigkeit des Vergangenen), gewährt so ein Stück Freiheit im Sinne von Autonomie (Selbstgesetzgebung).

(Komm: Autonomie wird in diesem Zusammenhang immer als Limes- (Grenz)-gestalt verstanden, polar auf leidvolle Abhängigkeit (Heteronomie) bezogen. Von den Beispielen her erscheint dies einsichtig, doch eignet dem Prinzip der Autonomie ein eigener Zwangscharakter:
Selbstgesetzgebung heißt, alles selbst setzen, hervorbringen und verantworten müssen. Die Kehrseite von Unabhängigkeit ist Bindungslosigkeit, alles was nicht auch nicht sein könnte, verfällt dem Mißtrauen. Vorgegebenheiten wie die der eigenen Geburt, der Natur, der Zufälligkeit von Begegnungen, des Todes und der Liebe entziehen sich letzlich der Selbstbestimmung. Was wir mit Erickson als 'Urvertrauen' bezeichnen, verweist auf eine positive Heteronomie, deren volle Gestalt uns nicht aus der Ambivalenz von Zwang und Ermöglichung entläßt. Realisierung der Autonomie als Ideal bedeutete die Vergesellschaftung des schizoiden Charakters, stets der Welt gegenüber, nie sich ihr vertrauensvoll-selbstvergessen überlassend. In diesem Sinne können wir auch den progressiven Aspekt des Primärprozeßhaften - sicher im Einklang mit dem Referenten verstehen. Auf Überlegungen dieser Art kommen wir noch zurück.)
 

"Das Bild steht dem Primärprozeß näher als der Begriff". Der Begriff überfliegt die Dinge und Erfahrungen, hält sich in abstrahierender Distanz und in der logisch-kausalen Ordnung (Sekundärprozeß). Die Sprache kann verschleiern, täuschen, folgt einer vorgegebenen Struktur (z.B Grammatik).
(Komm: Die Gegenüberstellung von Bild und Begriff/ Sprache speist sich - so unsere Vermutung --- von einigen anderen Oppositionen: Wahrnehmung vs. Idee, Empfindung vs. Sprache, Wissenschaft vs. Lebenswelt und Unmittelbarkeit vs. Vermittlung, ohne daß es um die Entscheidung für eine Seite geht. Das Bild steht nicht für unvermittelte Empfindung --- das entspräche der hohlen Kopf- und- Bauch- Dichotomie, von der sich der Vortragende mit Recht immer wieder distanziert hat. Es ist richtig, wenn wir dem Glauben mißtrauen, mit dem Namen, dem Begriff schon die Sache selbst zu haben. Ein einfachen Beispiel: Wir sehen ein Haus, genauer: wir sehen etwas als Haus. Dieses Etwas ist uns in einer unendlichen Fülle von perspektivischen Wahrnehmungen gegeben. Die Reihe der Hinsichten ist unabschließbar; mit dem Begriff vollziehen wir einen Sprung, der alle möglichen Wahrnehmungen übersteigt. Dieser Sprung unterscheidet dann auch wesentliche von unwesentlichen Wahrnehmungsaspekten, die abgeschattet werden.

 

Sind wir zu schnell beim Begriff, sehen wir nicht mehr, was wir sehen. Der berühmt- berüchtigte "Blinddarm auf Zimmer 13" entspricht - in Analogie - diesem Phänomen.
Wir können die Sache aber auch umdrehen, indem wir auf den blickeröffnenden Charakter der Sprache, des Begriffs hinweisen. In eine Situation hineingestellt - einem Bild, einem Gegenstand oder einem Menschen gegenüber - interpretieren wir immer schon das, was wir sehen / erfahren: immer ist uns 'etwas als etwas' gegeben. Es gibt keine "Tatsache" als factum brutum, der wir eine Bedeutung, einen Sinn erst anhängen müssen. Nur müssen wir unseren ersten Eindruck gegebenfalls revidieren, dh. wir suchen wahrnehmend und auf unsere sprachlich sedimentierte Erfahrung zurückgreifend einen erweiterten Kontext, von dem her sich auch unser Blick wandelt. Konkret: Wissen wir von einer Patientin, daß sie zu Spaltungstendenzen neigt (Borderline), so sehen wir ihr Verhalten in anderer Weise und prüfen Differenzen im Team auf den Verursachungs- Anteil seitens der Patientin.
Nochmal zur Sprache: "Die Rede ist Gedetzgebung, die Sprache ist deren Code. Wir sehen die in der Sprache liegende Macht deshalb nicht, weil wir vergessen, daß jede Sprache eine Klassifikation darstellt und daß jede Klassifikation oppressiv ist: ordo bedeutet zugleich Aufteilung und Strafandrohung" (R. Barthes, 1980, S.17).
Gilt dies für Bilder nicht oder nur in anderer Weise? Es kommt sicher auch auf die Bilder an. Die allegorische Darstellung der Vergänglichkeit unterwirft sich strengen Kompositions- und Motiv- gesetzlichkeiten, die Bilder der depressiven Patientin kaum.)
Bilder und das Malen sind primärprozeßhafter als Sprache und Sprechen, ihnen eignet deshalb auch ein höherer Grad von Individualität. Sprache hat einen Allgemeinheits- Charakter, den Bilder unterlaufen. Gleichwohl kann dies auch die Sprache - in Form der Poesie, der Dichtung (Komm: E.Schiffer verweist auf dadaistische Gedichte, die viel vom Primärprozeßhaften haben; gilt das auch für die Lyrik Celans?
Malen macht das Unsichtbare sichtbar (P. Klee) - eine These, die sich wiederum in Opposition zur Sprache versteht (s.o. Sprache kann verschleiern), aber auch dem Vorurteil widerspricht, Malerei sei Nachahmung (Mimesis) der visuellen Welt (i.S. von Photorealismus). 
Das Unsichtbare sichtbar machen, kann heißen, es in Analogien oder Symbolen malen (Sonne, Blumen; dunkle Balken u.a.) oder es in Auslassungen abwesend- anwesend sein zu lassen: (s. Abb.3)

Abb. 3

"Das Bild wurde von einem 50jährigen Patienten gemalt, der unter diffusen Ängsten litt, die ihn anfallsartig überkamen. (...) Nach mehrwöchigem Aufenthalt in unserer Klinik wagte er erstmals, seine Angst in Form eines Bildes auszudrücken. Auf der rechten Seite ... ein großer Hai mit weit aufgerissenem Maul .... Das übrige Blatt bleibt leer, da ist nur noch Raum für Angst" (H. Junge, 1990, S.736).

"Das fünfte Bein dieser Katze ist ein umgestalteter Penis. Die keusche ältere Patientin konnte ihrer sexuellen Problematik anders keinen Ausdruck verleihen". (A.Bader, 1974))
Das Malen versammelt Sensorium und Motorik durch eine Aufgabenstellung, aber ohne sie -- wie beim Sprechen -- unterzu- ordnen. Das zeigt sich z.B. bei hyperaktiven Kindern, die im Unterricht nur "stören" und beim Malen voll konzentriert und diszipliniert sind.

Auf zwei weitere Ausführungen des Vortrages gehe ich hier nicht mehr ein: mit Bezug auf Furrer, 'Neue Wege des Unbewußten' (Bern 1969) erläuterte Eckhard Schiffer die Primärprozeßhaftigkeit bei Kinderzeichnungen und die Produktivität des gemeinsamen Malens bzw. dialogischen Malens von Patient und Therapeut. Diese Felder werden uns im Folgenden noch beschäftigen, aber mit Hilfe anderer Autoren. 
Schluß des kommentierten Darstellungsteils. 

weiter zum Teil 2 
B. "Unter dem Pflaster liegt der Strand"

Die Phantasie ist eine anarchische Kraft
Die Mechanik des Wunsches
Künstlerische Produktivität als Sublimierung
Zwischenspiel: "Atmen und Schreiben"

 

 

Kunst als Selbsttherapie
Was eine Kinderzeichnung verrät
Das Bild, das Malen und  der
therapeutische Dialog

Literatur

Die Überlegungen seines Vortrages fanden Eingang in:
Eckhard Schiffer:"Warum Hieronymus B. keine Hexe verbrannte
Möglichkeiten und Motive gegen Gewalt bei Kindern und Jugendlichen"
Beltz Quadriga Verlag, Weinheim Berlin 1994.

Weitere Bücher von Eckhard Schiffer bei:

RS@suesske.de © Entstanden im Rahmen der Weiterbildung in der Abt.
Psychotherapie/Psychosomatik (Christl. Krankenhaus Quakenbrück) Mai 1992


seit 28.8.99

last updated 26.8.99


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