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Friedrich-Wilhelm Marquardt
2.12.1928 - 25.5.2002

Ein großer Theologe ist gestorben, ein freier und origineller, aber nicht ungebundener Denker, ein mit allen Sinnen wacher, empfindlicher Zeit-genosse, intensiver Gesprächspartner, ein-drücklicher Prediger und prägender Lehrer. Vor allem: er war unter den Theologen einer der ganz wenigen, die zutiefst sich erreichen ließen von Auschwitz, begriffen haben, was für ein Bruch und Einschnitt die Schoa ist, nicht nur, aber auch für die christliche Theologie.

Friedrich-Wilhelm Marquardt wurde 1928 in Eberswalde geboren, studierte nach dem Krieg evangelische Theologie, war einer der ersten westdeutschen Studenten an der Kirchlichen Hochschule in Zehlendorf, damals noch mit dem Ziel, Pfarrer in der DDR zu werden, studierte aber vor allem in Marburg bei Rudolf Bultmann, der Heideggers Existenzialphilosophie zur Voraussetzung allen theologischen Verstehens machte. Ob durch Heidegger, Camus oder Sartre – viele Angehörige der später so genannten skeptischen Generation wurden damals Existenzialisten, weil sie das für nüchtern hielten, weil sie nach der Katastrophe des Nationalsozialismus und seiner glaubensbereiten Anhänger möglichst gar nichts mehr glauben wollten. 
Doch Marquardt merkte bald, dass in Marburg von Nüchternheit keine Rede sein konnte: rauschhaft exstatisches, pathetisches Aufderstelletreten, ziellose Aufgeregtheit, ein letztlich faschistisches All Zeit bereit – wie Marquardt schon lange vor den französisch inspirierten Heidegger-Debatten spürte. Er wechselte zu dem anderen großen Theologen der 50er Jahre, zu Karl Barth in Basel. Wirklich ernüchternd und befreiend wurde für ihn dort, Theologie im politischen Kontext zu diskutieren, wurde für ihn vor allem die Religionskritik, nicht nur die von Feuerbach und Marx, sondern auch die biblisch-theologische Religionskritik Karl Barths. Was er da gelernt hat, drückte er in einem Barth-Zitat aus, das er zur Überschrift eines Aufsatzes für den Registerband der Kirchlichen Dogmatik machte: „Kritischer müßten mir die Historisch-Kritischen sein“: gesellschaftskritisch nämlich, ideologiekritisch, also politisch gesellschaftlich aufgeklärt selbstkritisch. Er hat aber auch sein Marburger Erbe nie verleugnet, bis zuletzt immer wieder zu Bultmann gearbeitet – und dem Prediger und Kirchentagsredner Marquardt war existenzialistisches Pathos nicht völlig fremd.
Marquardt wurde Pfarrer, zunächst in Bayern, dann im Rheinland, wo er zu jener kirchlichen „Bruderschaft“ gehörte, die den Streit um die Atomwaffen zur Bekenntnisfrage erhob und damit die Evangelische Kirche fast zur Spaltung gezwungen hätte.

Ende der 50er Jahre wurde er Studentenpfarrer an der Freien Universität Berlin – gegen den Willen des damaligen Bischofs Dibelius. Helmut Gollwitzer hatte die Berufung erzwungen, indem er sie zur Bedingung für sein eigenes Kommen machte. Die meisten reichen und etablierten Berliner hatten damals die Stadt angesichts des Chrustschow-Ultimatums in der umgekehrten Richtung verlassen, waren nach Bayern oder ins Rheinland gezogen. Der kalte Krieg bezog auch die Universitäten ein – eine der ersten Aufgaben des Studentenpfarrers Marquardt war, einen Studenten zu beerdigen, der – von westberliner Professoren und westalliierten Geheimdiensten verheizt – in Ostberliner Haft ums Leben gekommen war. Bald darauf geriet Marquardt selbst in die Mühlen des kalten Kriegs: ein entsetzter Brief an Kurt Scharf, in dem er von einem Besuch von Studentenpfarrern bei der Bundeswehr berichtete, bei dem ganz unverblümt von der Militärseelsorge als Teil der psychologischen Kriegsführung die Rede war, war nach Ostberlin gelangt und dort veröffentlicht worden. Marquardt wurde daraufhin von westlichen Geheimdiensten in die Zange genommen, wurde dabei krank an Leib und Seele.
Ebenfalls als Studentenpfarrer leitete er – zusammen mit seinem TU-Kollegen Rudolf Weckerling – eine Reise von Studierenden nach Israel. Kurz darauf gehörte er zu den Gründern der Kirchentagsarbeitsgemeinschaft Juden und Christen – und das Verhältnis zwischen Christen und Juden wurde eins seiner Lebensthemen. Er wurde Assistent bei Gollwitzer und schrieb eine bahnbrechende, Augen öffnende Doktorarbeit über Israel in der Theologie Karl Barths und wurde dafür mit der Buber-Rosenzweig-Medaille ausgezeichnet.

Mit Beginn der Studentenbewegung Ende der 60er Jahre, die er sich ganz nah gehen ließ, mit Haut und Haaren und unter die Haut, sah er sich vor einer doppelten Aufgabe: zum einen wollte er den Bürgern der Stadt den revolutionären Aufbruch der Studenten erklären und verstehbar machen, zum anderen den Studenten, die damals nicht mehr viel von Theologie hielten, zeigen, welches revolutionäre Potential in Bibel und Theologie steckt. Letzteres wurde dann 1971 zu seiner Habilitationsschrift: Theologie und Sozialismus. Das Beispiel Karl Barth. Marquardt unternahm es zu zeigen, dass Sozialismus nicht nur zu den ethischen Konsequenzen gehörte, die Barth aus seiner Glaubenserkenntnis zog, sondern dass sozialistische und marxistische Fragen, Kategorien, Denkfiguren auch seine dogmatische Arbeit prägten – und löste damit einen Skandal aus: die Kirchliche Hochschule lehnte die Arbeit als unwissenschaftlich ab (Wissenschaftlichkeit war auch damals schon ein Kampfbegriff), und Gollwitzer legte daraufhin seinen Lehrauftrag an der Kirchlichen Hochschule unter Protest nieder, lehrte nur noch an der FU. (Wie stürmisch es damals zuging, zeigt ein Blick in die Theologische Realenzyklopädie – theologisch ungefähr so vornehm wie sonst der Große Brockhaus, ist sie sich aber nicht zu vornehm, in einem langen Artikel über Karl Barth zu betonen, er habe bei der Abfassung seines Römerbriefs Lenins „Staat und Revolution“ noch gar nicht kennen können.)

Beide Themen, die Marquardt mit Entdeckungen in der Theologie Karl Barths anstieß, das Verhältnis der Christen zu den Juden und die gesellschaftliche Bedingtheit wie auch das gesellschaftliche Aufklärungspotential von Theologie hängen zusammen, denn zu der gesellschaftlichen Situation, in der Theologie entsteht und auf die sie sich bezieht, gehört, dass es die Situation nach Auschwitz ist. Auch Marquardt hat Zeit gebraucht, dieses „nach“ in seinem ganzen Gewicht wahrzunehmen. Es war bewegend, wie beim Nürnberger Kirchentag 1979 eine ganze Messehalle voller Menschen gebannt, fast mit angehaltenem Atem zuhörte, als er über „Christsein nach Auschwitz“ sprach.

Als Gollwitzers Nachfolger an der FU hat er in den 70er und 80er Jahren seine vor allem im christlich-jüdischen Gespräch gewonnenen Einsichten in einer neuen Dogmatik, einer Glaubenslehre zusammengefasst, die inzwischen in sieben dicken Bänden erschienen ist. Und schon deren quantitative Aufteilung ist aufschlussreich: ein Band Methodisches, in dem grundlegend Rechenschaft abgelegt wird, was christliche Theologie nach Auschwitz sein und tun muss; zwei Bände „Das christliche Bekenntnis zu Jesus, dem Juden“: welche Bedeutung hat es für den christlichen Glauben, dass Jesus Jude ist?; drei Bände Eschatologie, also Hoffnungslehre, und dann noch ein weiter Band: eine theologische Utopie, die auch seine Gotteslehre enthält. Die Gewichtung zeigt: auch durch schwärzeste Einsichten in die Fraglichkeit der Theologie wollte er sich weder die Bedeutung Jesu noch die Hoffnung ausreden lassen oder nur noch kleinlaut und gedämpft davon reden. Das wäre ihm wie eine Kapitulation vor dem Erzfeind, dem Tod, vorgekommen.

Am Sonnabend ist Friedrich-Wilhelm Marquardt in Berlin gestorben, am Vorabend des Sonntags Trinitatis und an dem Schabbat, an dem in den Synagogen der Abschnitt „Nasso“ aus dem 4. Buch Mose gelesen wird, der den Segen enthält: der HERR segne dich und behüte dich; der HERR lasse leuchten sein Angesicht über dir und sei dir gnädig; der HERR erhebe sein Angesicht auf dich und gebe dir Frieden.
Die Berliner Kirche hat einen großen Lehrer, vielleicht einen Propheten verloren, auf den sie zu seinen Lebzeiten kaum gehört hat. Gebe Gott, dass sie nachsitzt, nachliest und lernt.

von Matthias Loerbroks
      Berlin 6/02

Dr. Matthias Loerbroks ist evangelischer Pfarrer in Berlin


Friedrich-Wilhelm Marquardt
2.12.1928 - 25.5.2002

Zum Gedenken an einen grossen Lehrer in der Christenheit

Als die vom DKR neu gestiftete Buber-Rosenzweig-Medaille 1968 zum ersten Mal verliehen wurde, da waren die Ausgezeichneten zwei nonkonformistische Wissenschaftler, ein Theologe an der Freien Universität Berlin sowie ein Historiker und Dramaturg am Wiener Burgtheater: Friedrich-Wilhelm Marquardt und Friedrich Heer. Heer hatte in seinem Buch „Gottes erste Liebe“ leidenschaftlich die vom kirchlichen Judenhass vergiftete Geistes- und Realgeschichte Europas geschildert, die Gottes bleibende Berufung Israels durchkreuzen wollte.

Marquardt hatte 1964 „Die Bedeutung der biblischen Landverheissungen für die Christen“ veröffentlicht, worin er das so oft bedrohte und bestrittene Existenzrecht Israels auf dieser Erde schilderte und als christliche Verantwortung einforderte. 1967 folgte sein erstes grosses Buch, das Linien aufzeigte, wie eine Erneuerung der Beziehungen zwischen Juden und Christen aussehen könnte: „Die Entdeckung des Judentums für die christliche Theologie“. Er entwickelte die Neuansätze in der Auseinandersetzung mit seinem Lehrer Karl Barth, bei dem er sowohl „altes“ Denken über Israel wie „neues“ findet, zB in seiner Erwählungslehre.

Ihm war klar, dass neben einer neuen Lektüre der Bibel eine kritische Überprüfung der christlichen Lehrtraditionen notwendig ist. Das Jahresthema hiess damals: „Suchet den Frieden und jaget ihm nach!“ Die Aufgabe schloss für beide Preisträger auch den Frieden ein, der – nach Jahrhunderten des Hasses und der Verfolgung – eine im Denken und Handeln erneuerungsbedürftige Christenheit mit Israel zu suchen hatte, mit jenem Israel, das in dem von Deutschland weitgehend ohne Widerspruch propagierten und organisierten Massenmord am jüdischen Volk ein Drittel seiner Menschen verloren hatte.

„Das Wichtigste am Judentum sind die Menschen“ – diesen Satz Leo Baecks zitierte Marquardt immer wieder. Ihm wurde sehr früh deutlich, wie radikal die denkerische und praktische Umkehr sein musste. Mit Jüdinnen und Juden zusammen zu arbeiten, von und in Israel zu lernen, das war neu. Die Christenheit hatte oft gemeint, seit Paulus und Johannes alles über „die“ Juden zu wissen, ohne mit den jeweils Lebenden zu sprechen. So hatte man die notwendige Solidarität mit dem jüdischen Volk in den Zeiten seiner Bedrohung verweigert und sich selbst gegen die Judenfeindschaft wehrlos gemacht, als diese sich völkisch, biologistisch oder wirtschaftlich begründete und ab 1933 schliesslich Regierungsprogramm in Deutschland wurde.

1959 war Marquardt als Studentenpfarrer mit einer der ersten Studentengruppen nach Israel gefahren. „Le Chaim“, zum Leben, hiess der lange vor der Aufnahme diplomatischer Beziehungen von der Reisegruppe veröffentlichte Bericht. Das war seine Lebensaufgabe: Israel, in seinem Staat und in der Diaspora, in seiner lebendigen Vielfalt kennenzulernen und für es einzutreten, dass sein Leben nicht noch einmal angetastet werde.

Mit seinem Lehrer Helmut Gollwitzer, dessen Assistent er zunächst wurde, später sein Nachfolger an der FU Berlin, gründete er 1960 die „Arbeitsgemeinschaft Juden und Christen beim Deutschen Evangelischen Kirchentag“. E.L.Ehrlich, R. R. Geis, Sch. Ben Chorin und Eleonore Sterling waren von Anfang an gleichberechtigte jüdische Mitglieder dieser AG. Sie gab mit grosser Öffentlichkeitswirkung Anstösse in alle evangelischen Kirchen, bis hin zu Änderungen ihrer Verfassungen, ihrer Lehr- und Schulbücher. Noch steht der Erneuerungsprozess in den Gemeinden und theologischen Fakultäten am Anfang. Das sah Marquardt, der sein Leben lang in einem inspirierenden Austausch mit jüdischen Kollegen arbeitete und lernte, wie kaum jemand sonst.

Immer ging es ihm in seiner Arbeit auch um eine Gesellschaft, die mehr Gerechtigkeit, Partizipation und vor allem selbstkritische Wahrheitsliebe (besonders gegenüber vergangenen und gegenwärtigen Irrwegen) als Formen ihrer Menschlichkeit benötigte. Den Aufbruch der Studenten ab 1966 begleitete Marquardt ebenso kritisch wie engagiert. Das verschaffte seiner wissenschaftlichen Arbeit sowohl Innovationskraft wie Praxisnähe, da die herkömmlichen Antworten von gestern zur Beziehung zwischen jüdischer Minderheit und christlich geprägter Mehrheitsgesellschaft ihre Bewährungsprobe nicht bestanden hatten.

Ihm war es vergönnt, sein Lebenswerk noch zu vollenden. Es sind sieben eindrucksvolle Bände einer Dogmatik, der Darstellung der biblischen und christlichen Überlieferung in der Auseinandersetzung mit ihren jeweiligen Lebenswelten und Geistesströmungen. Und, so kann mit Fug und Recht gesagt werden, es ist neben der dreibändigen Dogmatik des us-amerikanischen Anglikaners Paul van Buren „A Theology of the Jewish-Christian Reality“ weltweit der erste Versuch, eine Theologie zu entwickeln, die einmal die vielen neuen Erkenntnisse zum Selbstverständnis Israels und zum Selbstverständnis der Christenheit zusammenführt und zum anderen in einer kreativen Sprache die Christenheit auf einen „Schulweg“ im ständigen Gespräch mit Israel einlädt.

Marquardt geht von der Fraglichkeit aus, in der nach Auschwitz Theologie und Kirche sich schuldhaft vorfinden, um im zweiten Teil, der Christologie, konsequent ernst zu machen mit der Tatsache, dass Jesus Jude ist, also ohne sein Volk und dessen Traditionen nicht verstanden werden kann. Der dritte Teil entfaltet eine „Hoffnungslehre“ der Wege, auf denen Israel und die Kirche unterwegs sind: Hoffnung und Arbeit in der Unerlöstheit der Welt gegen den Tod und seine Komplizen, damit Gott „alles in allem“ werde. Die Arbeit zeigt auch das biblische Aufklärungs- und Befreiungspotential gegenüber allen falschen Göttern, Autoritäten und Abhängigkeiten. Ein letzter Band, eine „Utopie“, schildert die Inhalte dieser Hoffnung in einem geistvollen Durchgang durch die biblischen Bilder und ihre Realitätsbezüge und durch die Spiegelungen dieses biblischen Erbes in Kunst und Literatur, Musik und Philosophie.

„Mitsehen und mitgehen können, das war ihm vielleicht als besondere Gabe beschieden“ unterstrich sein Bruder Marten Marquardt in seiner Beerdigungsansprache. Und ein Gesprächspartner aus Israel, Yehoyada Amir, schrieb: „Sein Lebenswerk wendet sich vor allem an die christliche Welt, seine Bedeutung reicht jedoch weit darüber hinaus. Für viele Juden hat dieser Versuch ein neues Gespräch ermöglicht, das auch ihren religiösen Horizont erweitert hat. Für uns Juden bedeutete Marquardts Gegenwart und sein Wort eine Möglichkeit in einer neuen Weise Anteil an der Heilung der Welt (tikkun olam be malchut shaddai) zu nehmen, die vor seiner Generation nicht gegeben war.“

Sein Leben und sein Werk verdienen grossen Dank, der darin lebendig wird, dass sie nicht vergessen, sondern wahrgenommen und weitergetragen werden.

Martin Stöhr, Fröbelstr. 10, 61118 Bad Vilbel.
http://www.jcrelations.net/de/displayItem.php?id=1414 



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