-----..Kein sicherer Ort ?

Spätfolgen von Missbrauch und Gewalterfahrungen bei Männern

Auf meinen Vortrag habe ich im Laufe der Zeit immer wieder  E-mails von betroffenen Männern bekommen. Der Autor des folgenden - von mir unkommentierten - Textes gab mir die Erlaubnis, ihn hier als Reaktion auf meine Online-Version zu veröffentlichen. Er ist auch eine Einladung an andere ...  (Rudolf Süsske)

Leben ist nicht einfach ...

Sehr geehrter Herr Süsske,
ich wollte Ihnen auf diesem Wege für Ihren Text
"Kein sicherer Ort" aus dem Internet danken. Als Betroffener sexuellen Mißbrauchs hat mich Ihr Text sehr berührt, er ist klar und kompakt, trotzdem sehr vielschichtig.
In den letzten 14 Jahren habe ich eine regelrechte Therapieodyssee hinter mir.

Mit meinen Symptomen (Grenzerfahrungen, Schlaflosigkeit, männl. Identitätsstörungen...) bin ich fast immer an die verkehrten Therapeuten (verschiedenster Fachrichtungen) geraten, viele gingen in Konkurrenz zu meinen heilenden Impulsen. Das heißt die "inneren Ressourcen" wurden nicht gewürdigt, eher sogar verachtet. Gemein haben aber alle Erfahrungen, dass mir ein sicherer geschützter Ort "verweigert" wurde. Viele "Fachleute" verstehen nicht, wie wichtig es ist, einen geschützten Raum in der "Welt" zu haben. Denn die Erfahrung als missbrauchtes Kind ist ja die, dass noch nicht mal der eigene Körper ein geschützter Raum ist. Es ist jemand gewaltsam eingedrungen und hat das "Innerste", das "Heiligste" eines Kindes verletzt, wollte es sogar besitzen oder zerstören.
Das heißt auch, dass noch nicht mal ich selbst in meinem eigenen Körper Zuhause bin.
Diese Erfahrung ist auch noch als Erwachsener (heute bin ich 37 Jahre alt) immer noch schwer auszuhalten.

Zudem habe ich gemerkt, dass viele Therapeuten oft ihre "Hilflosigkeit" versuchen mit Aktionismus überdecken. Motto "Wir wissen was gut für sie ist. Vertrauen sie mir. Wir haben Erfahrung."
Wenn der Therapeut seine Unsicherheit offen macht, ist das für mich kein Zeichen von Inkompetenz, im Gegenteil; er wäre dann offen für etwas Neues – eine Art gute Neugierde.
Missbrauch und die Erfahrung mit den Gefühlen ist ja etwas höchst "Individuelles" - mit der Verallgemeinerung durch die Umwelt nimmt man den Betroffenen den Weg zu seinem ursprünglichen "Ich" zu kommen.

Oft hatte ich das Gefühl, dass die "Helfer" in eine Art Gegenprojektion gehen. Viele können selbst nicht die "gute" Grenze zwischen Klient und sich setzen. Mit ihrer Leugnung, Verharmlosung oder ihrem Besserwissen wird wieder das "Kind" in seiner Verletzung und Verstörung nicht wahrgenommen. Dieses nicht "Wahrgenommen-Werden" von der "Welt" ist oft noch schlimmer als der eigentliche Missbrauch! Den Akt des Missbrauchs hat man "irgendwie" überlebt, aber die damit verbundenen Gefühle dürfen nicht in die "Welt" und müssen unterdrückt werden. Und gerade in diesen unterdrückten Gefühlen liegt ein großer Teil der Persönlichkeit verborgen.
Außerdem weichen Therapeuten Gefühlen aus, die sie selbst nicht aushalten können. Mit einem Missbrauch ist eben das "Verrückte" verbunden, ebenso höchst individuelle Grenzerfahrungen.
Bei einem missbrauchtem Kind wird diese Grenze zwischen dem Menschen und der Welt verletzt.
Grenzerfahrungen sind auch ein Teil unseres Lebens, ein Teil unser Lebenswahrheit! Sie sind persönlichkeits-bildend, wenn man ihnen gewachsen ist – sonst sind sie eher persönlichkeits-schwächend.
Grenzerfahrungen stellen unseren "funktionalen" Lebensweg in Frage.

Erst bei einem Mönch fand ich Platz für diese Gefühle. Die Religion kennt den Begriff "Mystik". Das sind Erfahrungen hinter unser rationalen Wahrnehmung.
Grenzerfahrung ist die Erfahrung an der Grenze zwischen Innen und Außen, zwischen Ich und Ihr, zwischen Gott und Mensch, zwischen Leben und Tod. Diese Gefühle sind auch für einen Erwachsenen sehr schwer auszuhalten, wie soll denn erst ein Kind damit umgehen?
Viele Menschen suchen Grenzerfahrungen z.B. über den "ultimativen Kick", Drogen oder Religion; sie öffnen sich aber freiwillig, sie haben selbst die Macht sich dem "Unbegreifflichen" zu stellen.
Bei einem missbrauchten Kind ist diese Erfahrung unfreiwillig und mit Gewalt und Zerstörung verbunden.
Ein Kind empfindet an diesem Ort ein großes Loch. Da ist eine Erfahrungen, die es nicht halten und nicht verarbeiten kann.
Viele, dieser Gefühle sind „realitätsraubend“, auch als Erwachsener verwende ich noch sehr viel Energie auf, um dieses Loch aktiv zu schließen und zu kontrollieren. Energie, die mir im Alltag oft fehlt.
Aus einer Grenze, die normalerweise einfach "da" ist, wird eine Grenze, die man "machen" muss. Aber das „erwachsene“ Leben besteht nun mal zum großen Teil aus Berührungen an der Grenze; für mich ist es sehr schwer auch die Lust an der Grenze wieder zuzulassen, ohne dabei ins missbrauchte Kind zu fallen.
Langsam lerne ich jetzt erst mir da zu vertrauen, das Loch so sein zu lassen, wie es ist. Vielleicht ist es ja irgendwann mal auch ein Teil, durch dessen Erfahrungen ich gewachsen bin.
Es hat mir sehr geholfen, dass ich mittlerweile meinen inneren Ressourcen vertrauen kann. Ich kann mittlerweile an mich glauben - trotz z.T. schlechter Therapieerfahrung.
Auch in den Momenten in denen ich mit meinen verstörenden Erfahrungen missachtet und allein gelassen wurde, bin ich langsam gewachsen, weil ich bei mir geblieben bin.
Das heißt der erwachsene Teil bleibt beim missbrauchtem kindlichen Teil und hält ihn, auch wenn die "Welt" ihn nicht (aus-)halten kann.

Mir hat es gut getan bei einigen Menschen einen Raum für meine Gefühle zu finden. Ich bin zwar als "Ding" behandelt worden, aber ich bin doch auch ein Mensch und brauche die anderen, egal wie unvollkommen sie und ich sein mögen. So komme ich langsam in die Welt zurück!
Aber diese Menschen zu finden, die einem gut tun, die Raum geben, die einfach da sind, die trotz des "Nicht-begreifen-könnens" in Bindung bleiben - die sind sehr schwer zu finden.
Es freut mich, dass Sie mit Ihrem Text dazu beitragen, dass es mehr von solchen Menschen gibt!

Vielen Dank!

P.S. Es wäre schön, sollten Betroffene und Fachleute durch meinen Beitrag einander besser verstehen. - Leben ist nicht einfach - erst Recht nicht mit den Erfahrungen eines Missbrauchs; aber Leben kann schön sein, wenn man seine verschütteten Energien und Ressourcen wiederfindet, in Kontakt bringen kann und nutzt!

Wer dem Vortrag bzw. den hier berichteten Erfahrungen & Überlegungen etwas hinzufügen möchte, kann mir gerne eine Mail schicken. Ggf. kann ich diese an den Autor des obigen Beitrages auch weiterleiten

Feedback
an den Webmaster (Rudolf Süsske)

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Kein sicherer Ort? - Missbrauch und Gewalterfahrungen bei Männern

(Vortrag in der DIAKONIE Oldenburg)

siehe auch:
Vermischte Bemerkungen zum Thema Traum und Trauma (R.Süsske)

im Internet gefunden:
Homepage Selbsthilfe - Missbrauch

 


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