Daniel N. Stern bei 

Diesseits der Worte

Daniel N. Sterns Forschungen zum
»impliziten Beziehungswissen«
in Therapieverläufen
[1]

 

 

von

Rudolf Süsske

Veränderungs-Momente und die Rolle des
impliziten Wissens in psychoanalyischen Therapien

Entwicklungspsychologische Perspektiven

Phänomenologische Zwischenbemerkung

Veränderungsprozesse im Therapeutischen Gespräch

Metapsychologische Konsequenzen der STERN'schen Forschungen

Abschließende Bemerkungen und 'lose Fäden'

Anmerkungen

 

Mit dem Titel unserer Ausführungen möchten wir bereits deutlich machen, daß es nicht um die Verabschiedung oder Entwertung des sprachlichen therapeu­tischen Dia­logs geht. Unsere verschiedenen Therapieformen sollten nicht ko-existie­ren, sondern sich ergänzen, wobei im Hinblick auf die PatientInnen – wie beim Tanz –, mal die eine oder die andere 'führt'.

     Ergänzen – im Sinne der Verständigung – können wir uns nur in einer gemeinsa­men Sprache und auch die müssen wir immer wieder neu finden und erfinden.

     Zu diesem Anlaß werfen wir zusammen einen Blick in die wissenschaftliche Werk­statt der Bostoner Arbeitsgruppe um Daniel N. Stern – viele kennen ihn als sog. 'Babyforscher – die sich den untergründigen Veränderungsprozessen in Thera­pieverläufen widmet. Beiher werden wir ein paar Punkte kritisch beleuchten.

 

     Veränderungs-Momente und die Rolle des 'impliziten Wissens' in
     psycho­­analytischen Therapien
[2]

     Der britische Psychoanalytiker Guntrip erzählt von seiner ersten Analysestunde bei Winnicott. Am Ende meinte dieser: 'Es gibt nichts, was ich noch sagen könnte, aber ich fürchte, wenn ich jetzt nichts sage, könnten Sie denken, ich sei nicht hier'.[3] - Die Deutungen sind gegeben, worauf spielt Winnicott hier an?

     Daniel Stern und seine Arbeitsgruppe fragen genau nach dem "Some­thing More than Interpretation".[4] Wenn  Patienten von ihren abgeschlossenen Analysen berich­ten, so erinnern sie als bemerkenswert entweder a) besondere Deutungen, die einen Durchbruch in der Therapie darstellten oder sie erzählen von authentischen Szenen mit der Person der AnalytikerInnen, die die Beziehung und ineins damit auch die Sicht auf sich selbst wandelten.

     Auf dem Hintergrund seiner Forschungen zur Eltern-Kind-Interaktion und mit An­leihen bei der Systemtherorie und kognitiven Psychologie versucht Stern, für das 'imlizite Beziehungswissen' bzw. die Veränderungen des 'Beziehungskontextes' im analytischen Gespräch ein Beschreibungsmodell vorzulegen.

     'Wir wissen immer mehr, als wir zu sagen wissen'. Könnten wir immer sagen, wes­halb wir in einem therapeutischen Gespräch diese oder jene Frage stellen, schwei­gen, diese und keine anderen Gefühle empfinden, die Patienten anblicken oder nicht? [5] Wir wissen, was zu tun ist, dh. 'können' es, aber 'wissen' es in reflexi­ver, verbalisierbarer Form nie vollständig.[6]

     Stern unterscheidet zwischen 

a) einem 'expliziten, bewußten, verbalisierbaren Wissen' (explicit bzw. declarative knowledge) und

b) einem 'impliziten, prozeduralen Wissen' (implicit procedural knowledge).[7]

     Ein Kind, das erzählen kann, wohin es gehen muß und was es zu tun hat, um an die Keksdose zu gelangen, verfügt über 'explizites Wissen'. Das jüngere Geschwister z.B. 'weiß' es so nicht, läuft aber zur Dose und öffnet sie ('implizites Wissen'). Wis­sen meint ursprünglich eine Handlungskategorie, Denken ist 'Probehandeln', worin Piaget und Freud übereinstimmen würden.

     Das implizite Wissen ist nicht-sprachlich und auch nicht symbolisch repräsen­tiert. Stern greift dabei u.a. auf die Unterscheidung zwischen semantischem und episodischem Gedächtnis von Tulving zurück. Dieses implzite Wissen ist im nicht-dynamischen Sinne unbewußt, dh. es wurde nicht verdrängt, sondern "operiert ein­fach außerhalb des Bewußtseins".[8]

     Jedoch legt Stern sein Augenmerk auf einen bestimmten Aspekt des impliziten Wissens. Ihn interessiert nicht das prozedurale Wissen, das sich als 'Können des Leibes', den Fertigkeiten – z.B. beim Fahradfahren[9] – im Umgang mit den Dingen der unbelebten Welt artikuliert.

     Es geht ihm um das 'implizite Beziehungswissen' (implicit relational know­ledge), ein Wissen, mit dem schon Säuglinge operieren. Affektiv, mimisch, gestisch, mit Bewegungen und Lautäußerungen agieren sie und 'wissen', wie sie Eltern her­anlocken, vertreiben oder zu bestimmten Handlungen bewegen können. Sie spüren dabei ineins relativ genau die Stimmungen, Bedürfnisse und Absichten der Bezugs­person.

 

     Entwicklungspsychologische Perspektiven

     Stern interessiert die frühe Eltern-Kind-Dyade nicht ätiologisch für die Neurosen­lehre - zB. Zuordnung von oraler Phase zur Depression – es geht ihm, wie gesagt, um Veränderungsprozesse von impliziten 'Wissens'- und Interaktionsformen des psychotherapeutischen Prozesses, deren Muster sich beim Kleinkind besonders gut verdeutlichen lassen, da "der Säugling vermutlich das sich am schnellsten verän­dernde Lebewesen ist".[10]

     Skizzieren wir Veränderungsprozesse unter entwicklungspsychologischer Perspek­tive, so treffen wir auf die "wechselseitige Regulation von Zuständen" (mutual regulation of state) als der zentralen Aktivität in der Mutter-Kind-Dyade.[11]

     'Zustand' (state) meint dabei – in systemtheoretisch-biologischer Begrifflichkeit – die "semistabile Organisation eines Organismus' in seiner Ganzheit zu einem be­stimmten Zeitpunkt. (…) Dyadische Zustands-Regulation zwischen zwei Personen gründet in einem Mikro-Austausch von Informationen über das Sinnessystem und affektiven Ausdruck ..".[12]  Zu regulierende states sind z.B. Hunger, Durst, Schlaf, sozi­aler Kontakt, so auch Gefühle, Neugier, Bindung etc. Affekte können beispiels­weise 'runter-reguliert' werden, Greif- oder Suchverhalten kann unterstützt, Lautäu­ßerungen können verstärkt bzw. ausgebaut werden usw.   

     Die 'Regulation' ist somit zielgerichtet (goal-directed), wobei manchesmal das Ziel eindeutig und direkt erreichbar, ein andermal vage, umwegig oder sich im Ver­folgen selbst wandelnt darstellt. Es ist ein Unterschied ob der Wunsch nach dem 'Fläschchen' befriedigt wird oder ob das Kind frei mit einem Mobile spielt und im Tun – allein oder zu zweit – neue Ziele 'entdeckt'.

     Wir können diesen Prozeß der 'wechselseitigen Regulation' als stetiges Verhan­deln, Korrigieren, Fordern und Erfüllen, Ergänzen und Vermissen, manchesmal Kämpfen beschreiben. Jeder Partner – Kind und Bezugsperson – bringen ihre eige­nen Fähigkeiten und Bedürfnisse, ihre eigene Geschichte in diesen Prozeß ein, der somit zwar wechselseitig, aber nicht symmetrisch ist.

     An anderer Stelle betont Stern – mit Blick auf die Mutter - den 'schöpferischen' Charakter dieses Phänomens, wenn er schreibt:

"Nach meinem Eindruck gleicht eine primäre Betreuungsperson mehr als allem an­deren einem schöpferischen Künstler, etwa einem mittanzenden Choreographen oder einem komponierenden und konzertierenden Musiker, der sein Werk aufführt, wie er es hervorbringt."[13]

Den Verlauf der 'wechselseitigen Regulation', die gegenseitige Abstimmung nennt Stern – und das ist ein Schlüsselbegriff seiner Ausführungen – 'moving along'.[14]

Die 'wechselseitige Regulation' bzw. der 'moving along'–Prozeß orientiert sich an zwei Zielen: 

a) Die Koordination von Bewegung, Körperhaltung und Saugverhalten beim Stil­len z.B. stellt für Stern das 'physische und/oder physiologische Ziel' dar. Hierzu gehört auch das aufmunternde Anlächeln und Ansprechen, wobei sich in der ver­gnüglichen Freude das Erregungsniveau (arousal) beider Partner aufeinander ab­stimmt. Davon unterscheidet er

b) das 'intersubjektive Ziel' (intersubjective goal), das im Erkennen und Aner­kennen der Absichten, Wünsche und Motive des jeweils anderen besteht. Diese sind wiederum handlungsleitend und steuern die begleitenden Gefühle. Beide Ziele (a und b) bestehen parallel, verhalten sich wie 'Figur und Grund' zueinander.[15]

Im folgenden berschränkt sich Stern auf das 'intersubjektive Ziel', da in dessen Ver­folgung – 'moving along' – der gemeinsam geteilte Beziehungskontext (intersubjec­tive enviroment) geschaffen wird, dem ein 'implizites Beziehungswissen' (implicit relational knowledge) korrespondiert.

Betrachten wir das folgende Beispiel: Frühstücksszenerie. Der kleine David – stolz auf seinem Hochstuhl am Tische sitzend – langt nach dem ihm unerreichbaren Löf­fel. Ohne große Reflexion schiebt Papa Michael ihm diesen zur Hand. David greift nach dem Löffel, lächelt Papa an und mit dem Schlagen des Löffels auf den Tisch verwandelt sich beider Lächeln – Aug in Aug – in ein ausgelassenen Lachen.[16]

     Wir erkennen hier – so hoffe ich – deutlich, wie 'physisches' und 'intersubjektives Ziel' zusammenspielen, David und Michael 'wissen' implizit, 'was zu tun ist', was die Situation verlangt. Der Vorgang  umfaßt die mental-intentionale, die sensu-motori­sche und die affektive Ebene. Doch wären dies reflexiv entworfene wissenschaft­lich-methodische Zuschreibungen; im Vollzug ähnelt es mehr dem, was Stern oben mit dem mitmusizierenden Komponisten angedeutet hat.

     Doch schauen wir noch etwas genauer hin.

     Ineins mit der erfolgreichen Aktion wandelt sich beider Lächeln in ein offenes La­chen, ein höheres Level der Freude (level of joy) haben nun beide erreicht. Dh. der 'intersubjektive Kontext' und das 'implizite Beziehungswissen' haben sich gewan­delt. Beides wurde nicht hergestellt oder war durch den Handlungsdialog eindeutig determiniert. Die Szene wird nicht nach einem Plan 'inszeniert', noch gleichen sich Wiederholungen im Detail. Sie hat den Charakter einer 'Improvisation'. Stern spricht – systemtheoretisch – von der 'Emergenz' und 'Nicht-Linearität' in den Re­gulationsprozessen. 

     Wenn wir uns nun vorstellen, für den kleinen David war dieses 'Löffel erlangen und schla­gen' eine seiner ersten Erfahrungen dieser Art, so ist es nicht nur die über­schweng­liche Freude, die beide miteinander teilen, sondern auch Stolz über die Wirkmächtigkeit leiblicher Intention.

 

     Phänomenologische Zwischenbemerkung

     Sterns Hintanstellung des 'physischen Zieles' – obgleich er von parallelen Vorgän­gen spricht – fordert zu einer Anmerkung heraus:

     Die Greifbewegung hat in sich eine 'intentionale Struktur', die mit den physiognomi­schen[17] Eigenschaften des Löffels, seinem Anmutung- bzw. Aufforderungscharakter kor­respondiert: Handmulde und Löffelgriff 'passen zueinander'[18], wie ein glattes Treffen­geländer zum Entlangstreichen einlädt, von sanfter Haut wollen wir hier mal schweigen. Auch dabei spielt 'implizites Wissen' eine Rolle, genau jenes, das Stern am Anfang unserer Ausführungen – mit dem Beispiel des Fahrradfahrens – beiseite gestellt hatte.

     Dieses Wissen scheint 'monologisch', hie aktives Subjekt, dort passiver, unbelebter Ge­genstand – Objekt. Doch ohne den Aufforderungscharakter des Löffelgriffs, der Gätte einer Oberfläche etc. käme eine intuitive Bewegungsintention gar nicht zustande. Zwar können wir nicht von Intersubjektivität sprechen, gleichwohl von einem 'Dialog'.

     Wir wollen noch einen Schritt weitergehen: Indirekt thematisierten wir gerade den klei­nen David in seinem leiblich-bewegten 'Dialog' mit dem Löffel.  Was ist mit Papa Michael?

Das Ergreifen des Löffels ist gemeinsames 'physisches Ziel', an dessen Verwirklichung er sich mit seinen leiblichen Fähigkeiten beteiligt. Seine unmittelbare Bewegungsinten­tion antwortet auf die Davids. Genauer: im Sehen des Greifens versetzt sich sein Eigen­leib in den fremden und übernimmt virtuell diese Bewegung und 'weiß' unmittelbar um die erforderliche Antwort, wie wir – um ein verwandtes Phänomen zu nennen – unmit­telbar am bzw. im Leibe spüren, wenn wir sehen, wie jemand geschlagen wird oder uns von einem Lachen 'anstecken' lassen.

     Merleau-Ponty schreibt hierzu: Es ist mein Leib, "der den Leib des Anderen wahr­nimmt, und er findet in ihm so etwas wie eine wunderbare Fortsetzung seiner eigenen Intentionen (…) und wie die Teile meines Leibes ein zusmmenhängendes System bil­den, bilden somit auch der fremde Leib und der meinige ein einziges Ganzes, zwei Sei­ten eines einzige Phänomens".[19]

     Es wäre sicherlich falsch, wenn wir sagten, Stern ordne die Intention dem mentalen System zu und dränge die Bewegung als motorischen Akt in die Rolle eines bloßen Ausführungsorgans[20], dazu sind seine Beschreibungen der Mutter-Kind-Interaktionen zu genau. Aber Stern spricht in den vorliegenden Texten dem sog. 'physische Ziel' jede Form von Intersubjektivität ab.[21] Wir sehen da eine engere Verwandschaft und stellen der Intersubjektivität eine 'Zwischenleiblichkeit'[22], wie wir sie oben angedeutet haben, zur Seite.

     Doch kehren wir zu Sterns Ausführungen zurück. Mit Blick auf unser Beispiel würde er von einem 'moment of meeting' sprechen. Der gelungene Handlungsdia­log mit einem Sprung in den leiblichen Fertigkeiten, die gemeinsame, besonders er­regende Freude und der Stolz, zeichnen diese Szene im 'moving along' des Früh­stücksverlaufs besonders aus. Es fand ein Wandel im 'intersubjektiven Beziehungs­kontext' und dem 'impliziten Beziehungswissen' statt.

     Vielleicht könnten wir bei der Betrachtung obiger Szene auch den Moment entde­cken – etwa im Ergreifen des Löffels, dem Wandel des Lächeln, bevor David auf den Tisch schlägt – den Stern den 'open space', den 'offenen Raum' nennt. Für ei­nen Augenblick sind die Interaktionspartner ganz bei sich, halten gleichsam im Tanz oder Spiel inne. Stern gebraucht hier die Worte 'disjoin' und 'détente'.[23] Es ist der Raum, der neue Initiativen, Spontaneität ermöglicht. Ihm folgt – in unserem Beispiel – das Lachen und Löffelschlagen. David könnte ebenso gut den ergriffenen Löffel vom Tisch wischen und Unmut äußern – no moment of meeting.

     Auch wir halten einen Moment inne und treten einen Schritt zurück:

     Es geht Stern um Veränderungsprozesse des 'impliziten Beziehungswissens' bzw. des 'intersubjektiven Beziehungskontextes' im psychoanalytischen Gespräch. Zur Beschreibung greift er auf entwicklungspsychologische Erkenntnisse zurück: Regulationen von 'States' in ihrer diffizielen Abstimmung und parallelen Zielge­richtetheit, die Entwicklung des 'moving along', die Auszeichnung von 'moments of meeting' und der Skizze eines 'open space'.

     Bevor wir zur Anwendung dieser Kategorien auf das 'Therapeutische Setting' über­gehen, müssen wir einen Aspekt noch ansprechen:

     Sobald von Erfahrung, von 'Wissen' die Rede ist, geht es in mehrfacher Hinsicht um 'Wiederholung'. Essen, Schlafen, Spielen, Kuscheln, sozialer Kontakt verlaufen gerade für den Säugling in immer wiederkehrenden Sequenzen. Etwas als etwas zu erfahren, setzt Erinnerung bzw. Gedächtnis voraus. Symbolisch codierte Erinnerung gibt es noch nicht, aber – wir erähnten es ganz am Anfang – ein 'episodisches Ge­dächtnis' (Tulving). Wir können dies hier nicht ausführen, deshalb nur soviel:

     Aufgrund seiner frühen Abstraktionsfähigkeit 'vergleicht' der Säugling nicht-be­wußt, geschweige denn verbalisierbar, einzelne Erlebnisse hinsichtlich verschiede­ner Aspekte (kontextuell, perzeptiv, motorisch und affektiv) und entwirft so etwas wie eine 'generalisierte Episode'. Die wird präverbal repräsentiert und läßt im Säugling eine 'Durchschnittserwartung' entstehen.[24] Die 'intersubjektiven Regulatio­nen' von 'States' zwischen Kind und Bezugsperson bilden das Material solcher Re­p­räsentanzen 'generalisierter Episoden'. Stern spricht an anderer Stelle von RIGs (Repre­sentations of Interactions that have been Generalized). [25]

     Besonders bemerkenswert scheint uns seine Feststellung, es werden keine 'Objek­te' oder 'Partialobjekte' – wir können auch hinzufügen 'Selbstobjekte' –, sondern 'In­ter­­ak­tionsmuster' internalisiert, dh. in proto-typischen Szenen verortete Vollzugs­formen, bei denen Handlung, Wahrnehmung und Affekt zusammengebunden sind. [26]

     Bei dieser Form der Bildung präverbaler Repräsentanzen sprechen wir über Klein­kinder bis zu 18 Monaten. Anschließend können Bilder, Objekte und Selbst­objekte, aber auch Phantasien symbolisch repräsentiert werden. Gleichwohl hört die o.g. Form der Erfahrung nicht einfach auf, wird nicht durch symbolische Repräsen­tanzen ersetzt. Die symbolisch codierte Erinnerung nimmt Vor-Sprachliches – in ei­ner Art 'réprise' – auf, ohne es vollständig 'aus­zuschöpfen'. Ähnlich wie absichts­volle, bewußte Handlungen im Fluß unserer unaufhörlichen, unthematischen, leibli­chen Bewegungsvollzüge grün­den.[27]

 

     Veränderungsprozesse im Therapeutischen Gespräch

     Wenden wir uns nun Sterns Anwendung o.g. entwicklungspsychologischer Ein­sichten auf die Veränderungsprozesse im therapeutischen Gespräch (Application to Therapeutic Change [28]) zu.

     In einer prototypischen analytischen Sitzung[29] sind TherapeutIn und PatientIn auf gemeinsame (Zwischen)-Ziele hin orientiert; z.B. geht es in einer Sequenz darum, Zusammenhänge zwischen gegenwärtigen Angstzuständen und der frühen Mutter­beziehung herzustellen. Die Ziele sind nicht immer klar bestimmt, ändern sich im Vollzug, im freien Fortgang der Assoziationen.

     Auf der bewußt-verbalen Ebene finden wir das bekannte therapeutische Arsenal von Fragen, Deutungen, Klarifizierungen, Einsicht etc. Die Partner müssen sich im einzelnen nicht einig sein, aber sie verhandeln, 'ringen' gar manchmal miteinander. Wir befinden uns mitten im 'moving along', wobei Stern die Ziele auf der explizit-sprachlichen Ebene mit dem 'physischen Ziel' der Mutter-Kind-Dyade 'analogi­siert'.[30]

     Nonverbal und 'implizit' teilen die Therapie-Partner aber auch 'intersubjektives Ziel', stellen sich in einem diffizielen Regulationsprozeß auf die Wünsche, Bedürf­nisse, Gefühle und Absichten des bzw. der Anderen ein. Unbewußtes Erkennen und Anerkennen des 'Beziehungskontextes' konstituieren ein gemeinsam geteiltes 'impli­zites Beziehungswissen'. Aus den entwicklungspsychologischen Vorannahmen müßte man folgern, daß dieses 'Wissen' im 'episodischen Gedächtnis' präverbal rep­räsentiert ist.

     Kleine Nebenbeobachtung: Stern hatte ja die Leibregungen vom 'intersubjektiven Ziel' abgetrennt und auch das Couch-Setting definieret sich gerade als regressiv-bewe­gungsarm und doch 'greift' er zur Metapher des 'moving along' = weiter gehen, weiter fahren; spricht vom 'open place', wie von einer Wegkreuzung, wo der Schritt innehält, um vielleicht die Richtung zu ändern. Auch 'moment of meeting' hat etwas von Spazier­gängern, die sich treffen. Nun gut – 'moment' – 'Moment'  ist eine zeitliche Metapher; weiter im Text.

     Wir haben die ersten Bestimmungsstücke des 'moving along' wieder vor uns. Bei der kleinen Szene mit dem kleinen David stießen wir auf den herausragenden 'mo­ment of meeting'. In die Formulierung ging voraussetzungslos schon ein Term ein, der nun in den Blick rückt, der des 'Moments'.

     'Moving along' gehen wir Schritt für Schritt voran; die Schritte sind Momente, 'ge­genwärtige Momente' (present moments[31]) auf diesem Weg.  

     "Von Moment zu Moment entwickelt sich eine geringfügige Diskontinuität", doch bleiben die Momente miteinander verbunden, indem sie eine Sinneinheit, ein Motiv bilden; Inhalt und Ziel dessen, worüber die Partner gerade reden. Stern spricht von einem 'gebündelten Umschlag' ('bounded envelope') subjektiver Zeit, in der Größenordnung von Mikro- bis einigen Sekunden.[32]

Beispiel: "der Therapeut sagt: 'Haben sie bemerkt, daß sie die letzten drei Sitzun­gen zu spät gekommen sind? Das ist gar nicht ihre Art'; der Patient erwidert: 'Ja, habe ich' und der Analytiker ergänzt: 'Was denken sie darüber?' – dies konstituiert einen 'gegenwärtigen Moment'

Der Patient antwortet: 'Ich glaube, ich bin verärgert über sie'. Schweigen. Dies ist der zweite 'present moment'.

Der Patient meint dann: 'Letzte Woche sagten sie etwas, da wär' ich bald ausge­tickt'. Das ist der dritte 'present moment'".[33]

Alle drei Momente gehören in einen Sinnzusammenhang, ihre Abfolge kann aber nicht vorhergesagt werden: Initiative, Antwort, Schweigen, Weitersprechen 'trans­portieren' nicht nur 'Das Zu-spät-kommen', den 'Ärger', die ausgesprochene affekt­beladene 'Erinnerung', sondern die Folge der Momente bestimmt für beide den 'Be­ziehungskontext', sie 'wissen' implizit wechselseitig – verkürzt gesprochen – um die 'Atmosphäre' der Beziehung.[34]

     Manchmal werden 'present moments' 'heiß'; plötzlich scheint der vertraute Bezie­hungskontext gewandelt oder 'auf dem Spiel zu stehen'. Beide Partner sind hellwach, ganz 'gegenwärtig'. Stern spricht vom 'now moment' – einem 'Augenblick der Wahrheit' und zieht eine Parallele zum griechischen 'Kairos'-Begriff.[35]

     Mitten im Gespräch über Vergangenes sagt die Patientin zum Analytiker: 'Ich liebe Sie'. Ein Patient kann in der Sitzung plötzlich merken, daß sich in der Bezie­hung etwas ohne seine Zustimmung geändert hat. Manchmal fällt das erst später auf, der 'now moment' war verpaßt, kann aber wieder aufgegriffen werden. Oder ich be­gegne – in Gedanken vertieft – beim Einkauf plötzlich einem Patienten.

Ein sehr schönes Beispiel von einer jungen Patientin erzählt Michael Balint:

"Es war etwa zu jener Zeit, als ich einmal die Deutung gab, es sei für sie (die Pati­entin) sehr wichtig, immer den Kopf oben und die Füße fest auf den Erdboden zu behalten. Darauf erwähnte sie, daß sie es seit frühester Kindheit nie fertiggebracht habe, einen Purzelbaum zu schlagen, obwohl sie es oft versucht hatte und ganz ver­zweifelt war, wenn es nicht ging.  Ich warf ein: 'Na, und jetzt?' – worauf sie von der Couch aufstand und zu ihrer eigenen größten Überraschung ohne weiteres auf dem Teppich einen tadellosen Purzelbaum schlug. Dies erwies sich als ein wahrer Druchbruch. …" [36]

Wahrscheinlich war Balint selbst auch überrascht. Das spontane 'Na, und jetzt?' können wir den 'now moment' nennen, den die Patientin intuitiv ergriff, indem sie den Purzelbaum schlug.  Mehr noch: aus dem 'now moment' wurde ein 'moment of meeting', denn sie Szene erwies sich – wie Balint schreibt – "als wahrer Durch­bruch". Es läßt sich vorstellen, in der Sekunde zwischen Balints Frage und dem Auf­stehen der Patientin ergab sich der 'offene Raum', 'the open space'.

     In den 'Moment der Begegnung' muß – so Stern [37] – etwas Authentisches, Persönli­ches eingehen, etwas, das den Beziehungskontext 'überschreitet', zumindest irritiert. Doch muß dies nicht nur wechselseitig 'erkannt', sondern auch 'anerkannt' werden.[38]

     Wäre Balint nicht ein Schüler des analytischen Ketzers Ferenczi gewesen, so hätte er vielleicht wie jener Analytiker reagiert, der für Stern Part eines Beispiels der Abwehr eines 'now moments' darstellt.

Ein junger Mann, schon etliche Monate in Analyse, litt schamvoll unter der Verun­staltung durch Verbrennungsnarben auf seiner Brust, die Folge eines Unfalles wa­ren. Sein Selbstwertgefühl war davon erheblich beeinträchtigt. In einer Sitzung "setzte er sich, ohne viel nachzudenken auf, zog sein T-Shirt hoch und meinte: 'Hier, schauen sie. Dann werden sie mich besser verstehen'. Abrupt, bevor er noch seine Narben entblößen konnte, fiel im sein Analytiker ins Wort: 'Nein, das müssen sie jetzt nicht tun!'

Beide waren von der Reaktion des Therapeuten überrascht." Später verständigten sie sich darüber, daß dieses Verhalten nicht sehr hilfreich war. Wobei der junge Mann es aber als zusätzliches Versäumnis empfand, vom Analytiker kein persönli­ches Wort des Bedauerns zu hören, sondern nur den Hinweis auf das analytische Setting.[39]

Ein 'now moment' kann dem Beziehungskontext den Boden entziehen, das vertraute 'moving along' wird durch eine Stolpern unterbrochen. Es ist wie auf einem gemein­samen Spaziergang: man erzählt, schaut herum und 'plötzlich' stolpert man über eine Baumwurzel oder hört einen Schuß: Was ist los? Wo bin ich? Ist mein Partner, meine Partnerin noch da? Hat er oder sie es bemerkt? etc. Im Sekundenbruchteil wird die Szene und die Beziehung geprüft und in unmerklichen Blicken, Gesten, mehr dem Ton der Worte als diesen selbst neu bestimmt.

Ein letztes Beispiel aus Sterns Aufsatz über einen 'now' bzw. 'moment of meee­ting:[40]  Molly – Mitte dreißig – kommt mit geringem Selbstwertgefühl in die Ana­lyse, mag ihren Körper nicht und plagt sich mit Gewichtsproblemen. Sie ist die zweite Tochter; ihre Schwester ist körperbehindert (Polio) und die Patientin erin­nert sich, wie ihre Eltern ihren gesunden Körper umsorgten. Oft mußte Molly vor ihnen als kleines Kind tanzen, von ihren Blicken andächtig verfolgt.

Sie begann die Sitzung mit den üblichen 'Körperklagen', verband dann Assoziatio­nen sexueller Erregung damit und in einem Anflug von Ärger meinte sie zu ihrer Analytikerin: ' ich hab' ein Bild, wie sie hinter mir sitzen … auf mich herabbli­cken'.

Später in der Sitzung fragte sie sich, ob ihre Eltern damals – als sie ihr beim Tan­zen zuschauten – auch sexuell erregt gewesen wären. Es folgte eine längere Dis­kussion über Körpergefühle und -empfindungen, Angst, es sei etwas mit ihr nicht in Ordnung.

Dann – nach einer längeren Pause – "sagte Molly: 'Jetzt wundere ich mich, daß sie mich so anschauten'.   (Hier begann der 'now moment'.)

Die Analytikerin fühlte sich ins Rampenlicht gestellt. Ihr erster Gedanke war, ob sie weiterhin schweigen oder etwas sagen sollte. Wenn sie schwiege, würde sich Molly nicht allein gelassen fühlen? Einfach Mollys Aussage zu wiederholen (…) schien ihr ungeschickt und zu distanziert. Eine Antwort mit persönlicher Note emp­fand sie als sehr riskant. Über sie intensive sexuelle Färbung zu sprechen schien ihr zu nahe am Agieren.

Mehr und mehr fühlte sie sich unwohl und versuchte, den Ursprung des Gefühl zu verstehen. Es ging um Dominanz und die Analytikerin spürte emotional eine Art Einladung, entweder Molly gegenüber, die 'überlegene Position' einzunehmen oder sich ihr zu fügen.[41]

An diesem Punkt ihrer Erwägungen fühlte sie sich plötzlich frei, Molly spontan ihr Empfinden mitzuteilen: 'Ich hab' so ein Gefühl, als versuchten sie geradezu meinen Blick auf sich zu lenken'. (…) –  'Ja', erwiderte Molly in sichlicher Erregung.

(Diese beiden Sätze formen den 'moment of meeting'.)

'Es ist schon eine vertrackte Sache', meinte die Analytikerin.

Molly: 'Da ist nichts falsch an meiner Sehnsucht'.

'Genau', bestätigte die Therapeutin. Molly: 'Aber da gehören zwei dazu'.

Therapeutin: 'Das wär' natürlich die Voraussetzung'.

Molly: 'Darüber mußte ich immer nachdenken … es ist gut hier so zu denken… ich kann sogar etwas Mitleid empfinden'.

Therapeutin: 'Mitleid mit Ihnen selbst?'     Molly: 'Ja'

Therapeutin: 'Das freut mich'."

TherapeutInnen, die der sehr abstinenten analytischen Haltung, wie sie in der Vig­nette zum Ausdruck kommt, nicht frönen, sollten bedenken, es geht um 'Strukturver­änderung', diesen Umschlag des 'moving along' zum 'now moment'.  Mit feinen Lackschühchen über eine Parkettunebeneheit zu stolpern oder mit Stiefeln über eine Bordsteinkante – stoplern bleibt stolpern.

     Natürlich gelingt es nicht immer, den 'now moment' zu ergreifen, ggf. wird er ein­fach verpaßt.[42] Ein andermal kann die Reaktion fatale Folgen haben, wie es wohl im Beispiel des jungen Mannes mit seinen Narben der Fall schien.

     Versäumte 'now Momente' können wieder aufgegriffen und auch korrigiert wer­den. Das erfordert aber ihre affektive Präsenz und einen neuen 'moment of meeting'.

     Stern diskutiert eigens die Rolle der 'Begegnungsmomente' (moments of mee­ting) im Zusammenhang mit Übertragungs-Deutungen.[43] Eine 'erklärende', kor­rekte Übertragungs­deutung, die den Patienten in seiner affektiven Beteiligung igno­riert, bleibt steril und oftmals wirkungslos. Gleichwohl stellt die zeitlich gut pla­zierte, affektiv aufgeladene Übertragungsdeutung kein 'moment of meeting' dar. Hier ist der/die TherapeutIn nicht in seiner/ihrer Authentizität und Person gefragt, sondern nur als Projektionsfläche. Stern argumentiert hier ganz klassisch analytisch. In solch einer Situation persönlich zu reagieren, hieße sich der unreflektierten 'Ge­genübertragung' auszuliefern.

     Zur Übersicht der Sternschen Konzepte das folgende Schaubild:

 

       Metapsychologische Konsequenzen der Stern'schen Forschungen

     Wenn wir nach den Konsequenzen der soeben skizzierten Untersuchungen von Stern und seiner Arbeitsgruppe fragen, so sollten wir noch einmal betonen, es geht um einen Aspekt des vielfältigen therapeutischen Geschehens. Thematisch war der 'ungedachte' und oft 'unbedachte' Hintergrund gemeinsam geteilten Beziehungswis­sens im Gespräch sowie die Rolle, die bestimmten Beziehungsmomenten im Verän­derungsprozeß – neben expliziten Fragen, Deutungen, Klarifizierungen etc. -  zu­kommt.

     Gleichwohl beinhaltet Sterns Ansatz Voraussetzungen, die einige traditionelle psy­choanalytische Konzepte zumindest einer Ergänzung zuführen müßten.

     Wir denken, mit der Kritik an sterilen, 'technischen' Deutungen in der Therapie rennt er offene Türen ein. Die Mystifizierung des Analytikers zur 'reinen Projekti­onsfläche' hat sich längst selbst entlarvt.  Empathie und Sym-pathie – im strengen Sinne des Wortes – gehören unerläßlich zum therapeutischen Tuns.

     Interessanter scheint folgende Tatsache: Stern spricht über ein dezidiert 'inter-sub­jektives Geschehen'. Eine Psychoanalyse der 'Triebschicksale' war per definiti­onem monadisch konzipiert[44], aber auch die 'Objektbeziehungs-' und 'Selbst­psycholo­gie' i.S. Kohuts befassen sich wesentlich mit intra-psychischen Vor­gängen.

     Ihr 'Objekt' oder 'Partialobjekt' ist keine reale Person, sondern der intrapsychische Niederschlag von Erfahrungen mit und Phantasien über Personen, zumeist der frü­hen Kindheit. Stern spricht dagegen von sozialen, interaktiven Erfahrungen, so­wohl in der Mutter-Kind- wie in der Therapeut-Patient-Dyade.[45] 

     Eine weitere, vorhin erwähnte Bemerkung sollten wir uns in Erinnerung rufen: 

Es werden keine 'Objekte' oder 'Partialobjekte', sondern  Interaktionsmuster inter­nalisiert, dh. in proto-typischen Szenen verortete Vollzugsformen, bei denen prä­symbolisch Handlung, Wahrnehmung und Affekt zusammengebunden sind.

Neben der a) konkreten gegenwärtigen 'Beziehungserfahrung' in der therapeutischen Situation, deren 'implizite' Form wir mit Stern beleuchtet haben und

     b) den Repräsentanzen vergangener Erfahrungen mit und Phantasien über Perso­nen i.S. von 'Objektbeziehungen' [46]), gibt es

     c) präverbal codierte 'Interaktionsmuster', denen infantile 'Szenen' oder Frag­mente von Szenen, aber keine 'Objekte' korrespondieren. Übertragungen kommen bei a) und c) nicht ins Spiel. Unter c) denken wir an Trauma-Erfahrungen.[47]

     Eine Zuordnung von psychoanalytischen Schulen zu den Ausführungen Sterns läßt sich an dieser Stelle nicht darstellen. Wir denken jedoch in Richtung der psy­choanalytischen Selbsttheorie in der Nachfolge Heinz Kohuts.[48]

 

     Abschließende Bemerkungen und 'lose Fäden'

     Blicken wir über den analytischen Sesselrand hinaus und von der Couch weg, so entdecken wir unser Gegenüber nicht gerade spontan Purzelbaum-schlagend, aber – jedenfalls in unserer Abteilung – in verwandte Aktionen verwickelt. Über die Mu­sik-, Tanz-, Gestaltungs-, Reit- und Bewegungstherapie kann eines mit Bestimmtheit gesagt werden: Der Leib als Selbst-ausdruck und Gestaltungsorgan kommt hier deutlicher zur Geltung. Wir bleiben gleichwohl hier bei der gesprächsorientierten Psychotherapie.

     'Gesprochenes' kann – und das ist ein phantastische Möglichkeit unserer Sprache – vom 'Sprechen' getrennt werden, aber innerhalb der Psychotherapie birgt es die Gefahr der Reduktion. Wenn ich vom 'Sprechen' rede, so ineins auch vom Leib, der die Rede zur Welt und zu den Anderen bringt.

     Ich denke aber mehr noch an den sehnenden Blick trotz entwertender Worten; der Haltung und Bewegungsunruhe in der Erzählung eines Patientin. Einer legt sich über den Tisch, um geradezu in mich hineinzukriechen oder es kauert eine Patientin ganz zurückgezogen mehr im als auf dem Stuhl.

     Und was passiert mit mir? Höre ich die Worte oder beachte/achte ich eher den seh­nenden Blick? Lasse ich mich von der Unruhe 'anstecken' oder entspanne ich mich, fast auffordernd?

     Dies sind kein Gefühle 'in mir', sondern kinästhetische Empfindungen, die sich dem verdanken, was ich wir oben 'Zwischenleiblichkeit' genannt haben. Der Unmut, ja Ärger, den der zudringliche, 'distanzlose' Patient in mir hervorruft wird nicht von (eigenen) Körpervorgängen 'begleitet', sondern meine härtere Mimik, Augenbrauen­zucken, Rückzug in den Sessel etc. > sind < der Ärger und der Unmut. Natürlich sprechen wir dabei nicht über physisch-physiologisch objektivierbare Parameter, sondern über Erleben und Gebärde.

     Wer kennt – um ein weiteresPhänomen zu nennen – nicht die verschiedenen Vari­anten des Händedrucks:  den kontraphobisch besonders festen, die ängstlich schwitzende Hand oder gar das seelenlose 'schale Stück Fleisch', das mich schaudern läßt.

     Ähnliches gilt für den Bezug zu Dingen und Raum. Nimmt jemand wahr, was auf meinem Tisch liegt? Wie betritt ein Patient den Raum?  'Nähe und Distanz' müssen auch ganz wörtlich verstanden werden. All diese Erfahrungen, vielleicht gerade diese, schlagen sich 'implizit' nieder und bestimmen den 'Beziehungskontext' mit. – Möglichkeiten für 'now momente', die wir nur ergreifen müssen. In der Fokussie­rung auf das analytische Couch-Setting vernachlässigt Stern diese Aspekte und kann dem impliziten leibbezogenen Dialog in der Therpiesituation keinen eigenen Wert einräumen.

Erlebt habt Ihr all die geschilderten Momente bestimmt auch schon, aber vielleicht noch nicht so bedacht.

Ich danke für Eure Aufmerksamkeit

 

 

     Anmerkungen

[1] Überarbeitete Fassung eines Vortrages in der Weiterbildungsveranstaltung der Abteilung für Psychotherpeutische Medizin (Ltg.: Dr.med. E.Schiffer) am CKQ: Christliches Krankenhaus Quakenbrück – 20.02.2002. Ich danke den MitarbeiterInnen für die anregende Diskussion, die an einigen Punkten Eingang in die vorliegende Fassung fand.

[2] Unsere Darstellung bezieht sich dabei wesentlich auf zwei Aufsätze von Daniel Stern et.al.:
Non-Interpretive Mechanisms in Psychoanalytic Therapy: The Something More Than Interpretation, Int.J.Psycho-Anal.,79, (1998) 903-921 (zitiert = A ) und Dies., Die Rolle des impliziten Wissens bei der therapeutischen Veränderung, PPmP Psychother. Psychosom. med.Psychol 2001; 51, 147-152 (Orig. 1998) (zitiert = B )

[3] vergl. A , 905

[4] siehe Titel  A

[5] Zwar tiefenpsychologisch orientert, finden Therapiegespräche in unserer Abt. zumeist face-to-face im Sitzen statt.

[6] vergl. Polanyi, M., Implizites Wissen, Frankf. 1985, bes. 13ff

[7] vergl. A , 904f

[8] B, 148. Einiges Wissen dieser Art war nie bewußt, anderes bewußt zur Zeit des Erlernens der Fertigkeit – zB. das Fahrradfahren. Sein Beispiel ist deshalb etwas unglücklich gewählt. Die philosophische Diskussion um diesen Begriff, besonders in der phänomenologischen Tradition, liegt gänzlich außerhalb von Sterns Interesse.

[9] vergl. A, 905

[10] B, 147; A, 907

[11] A, 907 ff ebenso für die folgenden Ausführungen.

[12] Stern bezieht sich hier auf die Arbeiten von E.Z. Tronick, Brazelton Touchpoints Center (BTC)

[13] Stern, D., Mutter und Kind. Die erste Beziehung, Stuttg. 1979, 161

[14] Kächle und Buchheim übersetzen dies mit 'weiter so' (B, 148); als terminus technicus verwenden wir im Folgenden jedoch die englische Bezeichnung.

[15] Stern beschränkt den Titel 'intersubjektiv' auf Wünsche, Absichten, Motive und Gefühle; Bewegung, Körperhaltungen etc.bleiben davon getrennt; s.u.'Phänomenologische Zwischen­bemerkung'.

[16] Stern gibt ein anderes Beispiel, s. A, 909

[17] Wir sprechen von physiognomischen, nicht von physikalischen Eigenschaften und beziehen uns dabei u.a. auf den niederländischen Pädagogen M. J. Langeveld, Studien zur Anthropologie des Kindes, Tü­bingen 19683. vergl. auch die Arbeiten von Merleau-Ponty und Waldenfels.

[18] Diese Form der 'fittedness' findet bei Stern keine Erwähnung, zu sehr geht es um das Miteinander-Sein von Personen, der leibliche Weltbezug mit räumlichen und gegenständlichen Strukturen bleibt unthematisch.

[19] Merleau-Ponty, M., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (frz. Orig. 1945), 405

[20] So die Formulierung im.Vortrag, welche Anlaß einer anregenden Diskussion wurde.

[21] In der Applikation auf die therapeutische Situation wird das noch deutlicher, s.u.

[22] vergl. z.B. Waldenfels, B., Das leibliche Selbst. Vorlesungen zur Phänomenologie des Leibes, Frankf. 2001, bes. 265ff

[23] A, 909

[24] Eine frühe Form der Intentionalität: etwas (Situation 'hier & jetzt') wird als etwas (generalisierte    Episode) erfahren / vermeint.

[25] vergl. Stern, D., Die Lebenserfahrung des Säuglings, Stuttg.1992; Dornes, M., Der kompetente Säugling, Frankf. 1993; Erazo, N., Entwicklung des Selbstempfindens, Stuttg.-Berlin-Köln 1997

[26] vergl. A, 907

[27] vergl. Merleau-Ponty, M., Phänomenologie der Wahrnehmung, Berlin 1966 (frz.Orig. 1945)

[28] vergl. A, 909ff und B 148

[29] Stern bezieht sich – vergl. seine Beispiele unten – auf das klassisch-analytische 'Couch'-Setting.

[30] vergl. A, 910; der Regulation und Abstimmung von 'sensu-motorischen Bewegungsgestalten' scheint ihm der explizite Austausch von 'semantischen Einheiten', Worten zu entsprechen. Dies erscheint uns eine recht erzwungene Parallele.

[31] A, 910f; B, 148f.

[32] ebd.

[33] A, 911 (eigene Übersetzung – R.S.)

[34] Daß sich dieses 'implizite Beziehungswissen' so schwer beschreiben läßt, liegt gerade an seinem vorsprachlichen, unbewußten Charakter. Sobald wir es zu sagen versuchen, ist es schon der Reflexion entzogen. Der Leser/Hörer sollte sich in entsprechende Situatioen versetzen, um den Schatten des 'ungedachten Objekts' (Bollas) zu erhaschen.

[35] A, 911f; B, 149. Kächle und Buchheim übersetzen 'present moment' und 'now moment' (s.u.) gleichermaßen mit 'gegenwärtiger Moment'; 'now' wäre vielleicht eher mit 'jetzt' übersetzbar, wir bleiben hier beim englischen Term.

[36] Balint, M.,Therapeutische Aspekte der Regression, Reinbek 1973 (Orig. London 1968), 157

[37] A, 914; B, 150

[38] Wir sprechen hier von Erkennen und Anerkennen natürlich im 'impliziten', unbewußten Modus.

[39] A, 915

[40] A, 913f (Wörtliche Zitate in eigener Übersetzung – R.S.)

[41] Das hat fast ein sado-masochistische Konnotation (to take the ‘superior position’ or to submit to Molly)

[42] vergl. A, 913f; B, 151

[43] A, 914

[44] vergl. Süsske, R.,Was meint Heinz Kohut, wenn er vom 'Selbst' spricht?, 1994
online unter  www.text-galerie.de  zu finden.

[45] Der Streit um den metapsychologischen Wert der Säuglingsforschung ist ja – wenn auch leise - immer noch im Gange; vergl. z.B. PSYCHE 6/2001

[46] 'Selbstobjekte' bzw. '-beziehungen' gehören in die gleiche Kategorie, auch wenn wir sie hier nicht ausdrücklich bestimmen und erwähnen

[47] Wir können dieser Linie hier nicht folgen; vergl. u.a.Fischer, G./F. Riedesser, Lehrbuch der Psychotraumatologie, Mnch-Basel 1999

[48] z.B. die Motivationstheorie und das Konzept der 'Modellszene' bei Joseph D. Lichtenberg und die Idee einer kontextuellen psychoanalytischen Intersubjektivitätstheorie im Umkreis von Robert D. Stolorow. Zur Übersicht vergl. Milch, W., Lehrbuch der Selbstpsychologie, Stuttg.-Berlin-Köln 2001

 

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