.Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen (Freud)
Sprache und nicht-sprachliche Interaktion im
psycho-therapeutischen Dialog
[ Vortragsfassung ]

Rudolf Süsske
Psych.Psychotherapeut

1. Freud - Erinnern versus Agieren  
2. Therapeutische Szenen
 
3. Sprechen, Verstehen, Inszenierung
 
4. Interaktion und Persönlichkeitsstörung
 
5. Kommunikation als "gemeinsame Hervorbringung"
 
6. 'Sequentielle Organisation sozialer Handlungen'
 
7. Therapeutischer Ausblick
 
    Anmerkungen
 
    Literatur

 

Eine erweiterte Fasung ist in der Nr. 4  der Zeitschrift "Psychoanalyse & Körper" [ 3.Jg., Heft 1, 2004 ] erschienen - u.a. mit einer Kritik an Heisterkamps "präsentischem Verstehen".

Psychoanalyse & Körper Nr. 4 [Inhaltsverzeichnis] als PDF-Datei 

Ausgehend von Freud und der traditionellen psychoanalytischen Auffassung und Bewertung des Agierens wenden wir uns den jüngeren Arbeiten Ulrich STREECKs zu, die sich mit der gegenseitigen Be-Handlung von Patient und Therapeut beschäftigen. Insbesondere Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen verwickeln Therapeuten und Teams in "gemeinsame Inszenierungen". Erörtert werden: Therapie als inter-personelles Ereignis, kontext-abhängige Deutung, soziale Handlungs-Organisation und deren normative Implikate. Zum Abschluss ein kurzer therapeutischer Ausblick.

Vor einem Jahr referierte ich an gleicher Stelle – unter dem Titel >Diesseits der Worte< – über Daniel STERNs Forschungen zum "impliziten Beziehungswissen" (Süsske 2002); dem, was neben der Deutung von Worten im therapeutischen Dialog noch geschieht. Mit Ausführungen zum Agieren bzw. Enactment, d.h. den nicht-sprachlichen Vorgängen innerhalb der therapeutischen Beziehung – anhand einiger Arbeiten ULRICH STREECKs -, möchte ich diese Überlegungen fortsetzen.

1. Freud - Erinnern versus Agieren

Der Titel unseres Vortrages – Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen – geht auf FREUDs Analyse des "Falls Dora" (Freud 1905) zurück. Er hatte die Patientin beobachtet, wie sie mit ihrem "Portemonnaietäschchen" spielte, "während sie im Liegen sprach, (…) es öffnete, einen Finger hineinsteckte, es wieder schloß usw." (238). Einige Sitzungen vorher hatte er der jungen Patientin erklärt, dass ihre Anschuldigungen gegen ihren Vater, in Selbstbeschuldigungen gründen. Ursache hierfür sei "Masturbation, wahrscheinlich in den Kinderjahren" (ebd.). Die Patientin wehrte sich heftig gegen diese Interpretation, aber für FREUD "verriet" sie sich im nicht-sprachlichen Tun. Wenig später resümiert er:

"Als ich mir die Aufgabe stellte, das, was die Menschen verstecken (…) aus dem was sie sagen und zeigen, ans Licht zu bringen, hielt ich die Aufgabe für schwerer, als sie wirklich ist. Wer Augen hat zu sehen und Ohren zu hören, der überzeugt sich, daß die Sterblichen kein Geheimnis verbergen können. Wessen Lippen schweigen, der schwätzt mit den Fingerspitzen: aus allen Poren dringt ihm der Verrat" (240).

Körperhaltung, Gestik, Mimik, Bewegung bis hin zu komplexen Handlungen spielten für Freud und viele seiner SchülerInnen aber lange Zeit eine untergeordnete Rolle, ganz nach dem Diktum: 

"In der analytischen Behandlung geht nichts anderes vor als ein AUSTAUSCH VON WORTEN zwischen dem Analysierten und dem Arzt." (Freud 1916-17, 9)

Den Abbruch der Behandlung durch die Patientin "Dora" erklärt FREUD mit einer Übertragungsdeutung: Sie habe sich an ihm in gleicher Weise gerächt, "wie sie sich an Herrn K. rächen wollte". Herr K., das war Josef BREUER, verstrickte sich mit der Patientin libidinös und beendete deshalb die Analyse, die dann von FREUD fortgesetzt wurde. Mit Doras Abbruch der Analyse "agierte" – so FREUD – die Patientin "ein wesentliches Stück ihrer Erinnerungen und Phantasien, anstatt es in der Kur zu reproduzieren"(Freud 1905, 283). Statt den unbewussten Rache-Wunsch – gegenüber Breuer - zu artikulieren bzw. ihm nachzuforschen, setzte "Dora" ihn unreflektiert – gegenüber Freud – in die Tat um.

Was unter den Titeln Agieren, Inszenieren, Enactment zu verstehen sei, wurde im Laufe der Zeit immer unklarer. Für Freud war es neben dem Agieren einer Übertragung in der Kur – triebökonomisch gesehen – die motorische Abfuhr. Später fielen noch so unterschiedliche Phänomene wie suizidales Verhalten, Delinquenz, impulsives Verhalten, Perversion etc. darunter.
Agieren erhielt einen negativen Beiklang und wurde "vielfach auch als Manifestation einer im Vergleich zu sprachlichen Äußerungen niedrigeren psychischen Entwicklungsstufe aufgefaßt."(
Streeck 2002, 252) Man hat das Agieren primärprozesshaft genannt und ihm Proto- oder Pseudo-Symbolisierungsprozesse zu- und dem sprachlich-symbolischen Ausdruck unter-geordnet.

"Danach wäre reifes Verhalten im Unterschied zu Agieren und nichtsprachlichem Verhalten dadurch ausgezeichnet, daß Wahrnehmen und Erinnern bzw. sprachliches Symbolisieren dem Handeln vorangehen, das Handeln somit erst, wenn überhaupt, in einem nächsten Schritt dem Erinnern und dem an Sprache gebundenen Denken nachfolgt." (ebd.)

RENIK (vergl. ebd., 252f) spricht von einem "proto-neurologischen Modell" (2): 
Unbewusste Wünsche verhielten sich analog zu Nerven-Impulsen, die einen efferenten oder afferenten Weg einschlagen können;

  EFFERENT: um "dann zu motorischem Verhalten bzw. Handeln und Agieren (zu) führen"; bzw.
  AFFERENT: dergestalt, dass sie den sensorischen Apparat von innen her stimulieren und Phantasien, Gefühle und Gedanken anstoßen.

Das traditionelle Couch-Setting (Liegen, fehlender Blickkontakt, äußere Reizarmut) legt es folgerichtig darauf an, den efferenten Weg weitgehend zu unterbinden, während der afferente, der zu symbolisch-sprachlichem Ausdruck führt, unterstützt wird.

"Sprechen bzw. Symbolisieren einerseits und Handeln bzw. Agieren andererseits würden sich – folgt man diesem Modell – wechselseitig weitgehend ausschließen. In dem Maße, wie der Patient agiert oder wortlos handelt, fantasiert und denkt er nicht, und es kommt nicht zum symbolischen Ausdruck in sprachlichen Mitteilungen."  (Streeck, ebd., 253)

Eine plausible Theorie? Einige AnalytikerInnen sind – zumindest implizit – aus diesem Konzept ausgebrochen. BALINTs Patientin z.B., die in der Sitzung einen Purzelbaum schlug (3), agierte – aber diese nicht-sprachliche Aktion war der Durchbruch in der Therapie. 
Können wir überhaupt Sprache und Handeln bzw. Körperreaktionen so trennen und hierarchisieren oder verfallen wir damit einem unreflektierten Cartesianismus? Denken, Sprache, Unbewusstes gehörten so der inneren, seelischen oder "geistigen" Handlung, Bewegung und Gestik der "äußeren Wirklichkeit" an.

2. Therapeutische Szenen

Vielleicht sollten wir aber vor der Thematisierung solch grundsätzlicher Fragen einen Schritt zurücktreten und uns alltägliche therapeutische Situationen ansehen:

  "Doras" Abbruch der Analyse – wie FREUD sie darstellt – war interpretierbar, sprengte jedoch das Setting. Im stationären und tagesklinischen Zusammenhang kennen wir aber heikle Interaktionen, die sich z.B. um die Entlassung und Wiederaufnahme drehen: suizidales Verhalten, vorzeitiger Abbruch der Therapie, aber auch rührender Abschied. Hierbei handelt es sich um komplexes Handeln.

  Manchmal sind die Beeinflussungen unmerklich. Eine Analytikerin (Streeck 2002, 266) hatte das unbestimmte Gefühl, der Patient weise sie ab, und selbst sei sie irgendwie aufdringlich. Die Untersuchung einer Videoaufzeichnung zeigte, "daß der Patient oft, aber jedes Mal nur flüchtig, in eigentümlicher Weise die Augen verdrehte, den Kopf leicht von seinem Gegenüber abwandte und gegen die Decke zu blicken schien". Er zeigte dieses Verhalten nur, wenn die Therapeutin sprach bzw. sie seine Aufmerksamkeit auf die Situation ihrer gemeinsamen Beziehung zu lenken suchte. Mit dem bloßen Auge war das Verhalten nicht bemerkbar.

  SANDLER (vergl. ebd., 254) berichtet von Therapiestunden, wo er den Eindruck hatte, mehr als sonst zu sprechen. Dies bewirkte der Patient "mittels einer geringfügigen Veränderung seiner Stimme" (…), "indem er jeden Satz so ausklingen ließ, als würde er etwas fragen, ohne aber wirklich eine Frage zu stellen."

  Einer unserer eigenen Patienten eröffnete jeden Sprachakt mit einem schweren Seufzer und leichtem Augenverdrehen, vermittelte den Eindruck, jede Frage oder Deutung sei eine Zumutung.

  Eine unserer Patientinnen – mit hohem Leistungsideal und Selbstkontrolle, aber komplementär Tendenzen zur dissoziativen Selbstauflösung – kam in mein Zimmer: "Darf ich mich auf den Boden legen?" und lag auch schon. Dann die appellative Frage: "Können Sie mir den Blutdruck messen?" Ich übertrug diese Handlung einer Schwester und blieb selbst auf Abstand. Monate später – als es wieder einmal um die Schwierigkeit ging, Hilfe anzunehmen bzw. erwarten zu dürfen – "Ich muß ja gar nicht am Boden liegen". Wir schmunzelten beide. 

  Unter dem Titel "eloquent hands" beschreibt MCLAUGHLIN (4) das Spiel der Hände bzw. Finger eines Patienten (Couch-Setting): Beim Sprechen über Ehefrau und Schwester streichelte der rechte Daumen sanft den Handrücken; wurde die gestörte Mutterbeziehung thematisch, verschwanden die Daumen anfänglich in den Handflächen. Im Lauf der Analyse – noch bevor der Patient verbal seine Wut artikulieren konnte; er oft lange schwieg – bearbeitete er mit den Daumennägeln die Zeigefingerkuppen bis aufs Blut.

Wie "Doras" Befingern des Portemonnaietäschchens – für FREUD – der Abwehr seiner Deutung widersprach, so zeigte auch einer unserer Patienten eine Inkongruenz zwischen sprachlichem und nicht-sprachlichem Verhalten: er redete wieder einmal über seine Absicht, endlich ins Handeln zu kommen (Alltag und Berufsleben zu gestalten), sank dabei aber noch tiefer im Sessel zurück und bedeckte mit den Händen die Augen, das Gesicht sanft reibend.

Der Beispiele ließen sich noch viele finden – und es werden noch einige folgen. Unter dem Titel "nicht-sprachliches Verhalten" verbergen sich höchst unterschiedliche Phänomene: komplexe Handlungen, Gesten mit eigener Bedeutung, d.h. unbewusste Ausdrucksgestalten, bis hin zu Bewegungen bzw. Körperreaktionen, die »für sich« keinen bewussten oder dynamisch unbewussten Sinn haben. Eine Bedeutung bekommen sie erst im Kontext der therapeutisch-dialogischen Situation

3. Sprechen, Verstehen, Inszenierung

Versuchten wir diese – soeben geschilderten – Szenen in das "proto-neurologische Modell" einzuschreiben, müssten wir ihnen wohl Gewalt antun. Sprache und Handeln bzw. Agieren schließen sich nicht einfach aus, sondern sind beide Modi eines Kommunikationsgeschehens. Sicherlich gilt das für die Alltagskommunikation: Stellen Sie sich ein Gespräch vor, wo Sie von allen stimmlichen, mimischen, gestischen und Körperhaltungs-aspekten absehen und sich nur auf den Sachgehalt des gesprochenen Wortes konzentrieren? Schon beim Telefonat z.B. fehlen (5) uns strukturell Blick, Geste, Körperhaltung und wir versuchen Stimmung, Gefühl, alles Nichtsprachliche der Art und Weise des Sprechens (Tonfall, Lautstärke, dem Räuspern, Schweigen usw.) zu entnehmen.
Auch in der therapeutischen Situation kommen beide Aspekte in ergänzender Weise zur Geltung. Die Aktualisierung von Übertragungsphantasien bedient sich verschiedener, gleichrangiger Wege: mal introspektiv-verbal, mal nicht-sprachlich oder die Kombination beider. Statt eines 'Entweder-Oder' – wie in der traditionellen Sichtweise – gestaltet sich das Zueinander mehrfältig: Nicht-sprachliches kann Sprachliches vertreten, verstärken, dementieren; Aspekt einer Ambivalenz sein oder ein zweites Thema zum Ausdruck bringen.
Schon wenn wir Begriffe wie Sprache, verbaler Ausdruck etc. verwenden, müssen wir genau hinsehen. Wovon reden wir?

  dem GESAGTEN, dem reinen, sachhaltigen Inhalt einer Äußerung (Denotation, Was-Gehalt) oder dem
  im Gesagten MITGEMEINTEN, das, was zwischen den Zeilen steht, sich aus dem Redefluss bzw. situativen Kontext erschließt (Konnotation), oder dem
  SPRECHENa, der Art und Weise, wie der Inhalt des Gesagten zum Ausdruck gebracht wird, oder einem
  SPRECHENb, das in erster Linie Handlungscharakter hat, weniger semantischen Inhalt zum Ausdruck bringen will, sondern uns zu einer Handlung (ver)-führen soll. Wir werden darauf noch zurückkommen.

Angesichts dieser – nur skizzenhaften – Reihung wird die Trennung von Sprache und Handeln bzw. Agieren mehr als fragwürdig. Der terminologische Übergang von Sprache zu Sprechen, beinhaltet zugleich einen von Innen- (6) zu Außenwelt, von subjektiver zu objektiv-interpersoneller Wirklichkeit. 
Lassen wir die Folgerungen des letzen Halbsatzes auf sich beruhen. Deutlich wird: auch Sprechen ist eine Form des Handelns, wie Handeln bzw. Körperaktionen einen Sinn, eine Bedeutung haben. FREUDs These, 'Denken sei Probehandeln', ließe sich auch umkehren: 'Handeln ist Probe-denken'.(
7)

Auf der Seite des Verstehens möchten wir nur kurz auf die Trias von Alfred LORENZER (8) hinweisen. Er unterschied drei Ebenen des Verstehens in der Psychoanalyse:

  LOGISCHES VERSTEHEN meint korrektes Verständnis dessen, was der Patient sagt. Grundlage sind sinnvolle Sätze bzw. Aussagen.

  PSYCHOLOGISCHES VERSTEHEN bezieht sich vornehmlich auf die Gefühle des Patienten, die der Analytiker nacherleben muss. Es sind bewusstseinsfähige Äußerungen; Affekte, die der Patient mitteilen möchte.

 SZENISCHES VERSTEHEN benennt die wesentliche Ebene im psychoanalytischen Dialog. Es bleibt nicht beim logischen und psychologischen Verstehen allein. In der Schwebe gehalten, kann das so erfahrene Material daraufhin befragt werden, welche unbewusste Äußerungsabsicht ihm zugrunde liegt. Welche infantile Szene aktualisiert sich im Gegenüber von Patient und Analytiker? "Welche Gefühle im Hier und Jetzt, die aus einer verdrängten Erinnerungsszene stammen, werden durch Aussagen oder Sätze zwischen beiden wiederbelebt?" Dabei gehen in "jede Deutung (…) auf dieser Ebene ebenso para-verbale wie auch situative Informationen ein."

Die Äußerungs- und Verstehensmodi – wie hier dargestellt – sind nicht ganz komplementär. Wichtig ist der SZENISCHE Charakter, sowohl in der Narration als auch in den nichtsprachlichen Äußerungen. ARGELANDER spricht sogar – expressis verbis – von einer szenischen Funktion des Ichs. 
Es wäre nun voreilig zu sagen, Sprache und Körperbewegungen bzw. Handlungen bringen gleichermaßen Inner-seelisches SYMBOLISCH zum Ausdruck. 

Man wäre schnell bei einer "Körpersprache", wie sie schon in den 40.iger und 50.iger Jahren Felix DEUTSCH für die Psychoanalyse konzeptualisierte und heute, besonders im para-therapeutischen Bereich des Managementtrainings, favorisiert wird. 

Lassen Sie uns dazu zwei Bemerkungen formulieren:
1.) Der Versuch, ein Lexikon der 'Körpersprache' zu entwickeln, scheitert wie der, eine verbindliche Semantik von Traum-Symbolen aufzustellen. Schon der Sinn eines Wortes bzw. Satzes lässt sich nicht positiv, kontextfrei bestimmen. Möchte ich z.B. auf einer 'Bank' sitzen oder will ich in ihr Geld abholen? – oder treffe ich mit dem Satz: "Es zieht" eine Feststellung oder bringe ich eine Aufforderung, nämlich das Fenster zu schließen, zum Ausdruck. Hier kann man nur WITTGENSTEIN zitieren: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." Gleiches gilt für Gesten u.a. Körperäußerungen.
2.) Nur ein Bruchteil der nicht-sprachlichen Aspekte von face-to-face-Kommunikationen lassen sich eindeutig in das Modell von Ausdruck eines inneren Gefühls oder einer unbewussten Re-Inszenierung einschreiben. Nehmen wir die Bemerkung SANDLERs (vergl. Streeck 2002, 254): durch den Frageklang der Patientenäußerungen wurde er zum vermehrten Sprechen genötigt. Oder das Beispiel, wo ein Patient vom "in die Handlung kommen" spricht und sich zurücklehnend die Augen bedeckt.
Die Sprache, das Sprechen, die Gesten sind nicht bloße Transportmittel, um "Inneres" ins "Außen" zu bringen; das 'Sender-Empfänger-Modell' wird der Verschränkung der Dialogpartner in Alltags- und therapeutischer Kommunikation nicht gerecht.

Negatives Fazit: "Nicht-sprachliches Verhalten" ist weder Zuflucht zu motorischer Aktion, noch bringt es nur innerseelische Erfahrungsniederschläge symbolisch zum Ausdruck; nur ausnahmsweise hat es eine ihm eigene Semantik." (ebd., 267)

4. Interaktion und Persönlichkeitsstörung

Bevor wir uns STREECKs zentralen theoretischen Gedanken zuwenden, ein Blick auf die Patientengruppe, der sein besonderes Interesse gilt. Hieran wird auch die praktische Notwendigkeit der Forschungs-Richtung deutlich.
"SCHWERE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNGEN manifestieren sich in erster Linie als Störungen zwischenmenschlicher Beziehungen". Diese Patienten "mißdeuten »neutrale oder freundliche Handlungen anderer als feindlich oder verächtlich«, sind »streitsüchtig und selbstbezogen« und unfähig, »zärtliche Gefühle oder auch Ärger anderen gegenüber zu zeigen« und »vertrauensvolle Beziehungen« einzugehen (…)". Sie "fallen »in Interaktion mit anderen oft durch ein unangemessen sexuell verführerisches oder provokantes Verhalten« auf." (
ebd.,249 mit Bezug (».«) auf ICD-10 und DSM IV Kriterien )

1. Beispiel (nach Streeck 2000, 14ff): Ein Mann – etwa 30 Jahre alt, sozial isoliert, wirtschaftlich am Boden – wird suizidal in die psychotherapeutische Klinik aufgenommen. Schon bald häuften sich die Klagen von Mitpatienten und Mitarbeitern: er sei zu laut, zu fordernd, missachte die Belange anderer. Der Patient lehnt die Behandlung nicht rundweg ab, aber alles sei entweder nicht 'sein Fall' oder zu wenig. Kollegen fragten, ob die Indikation zur Therapie in der Klinik gegeben sei, der Patient wäre doch nicht motiviert etc. "Hier hatte sich innerhalb von wenigen Tagen (…) ein Muster von Interaktionen etabliert, bei dem jede Seite das eigene Verhalten als Reaktion auf das schuldhafte Fehlverhalten der anderen Seite sah, und wo jeder erwartete, daß der andere sein Verhalten ändern müsse. (…) Das Geschehen war eine GEMEINSAME INSZENIERUNG", nicht bloß agierter Symptom-Ausdruck des Patienten.

2. Beispiel: Eine Patientin – Mitte 20, arbeitslos, sozial isoliert mit Suizidgedanken – beginnt das Aufnahmegespräch mit der Bemerkung, sie sei hier falsch: zu wenig Therapiegespräche, zu viele Mitpatienten; sportlich bzw. kreativ tätig könne sie auch zu Hause sein. Außerdem sei sie von ihrer ambulanten Therapeutin 'geschickt' worden. Ich entließ sie mit der Bemerkung, sie könne ja bei eindeutiger Therapiemotivation wiederkommen. Nach einem kurzen Gespräch mit einer Mitpatientin wollte sie dann doch bleiben. In der Folgezeit wiederholten sich solche Szenen: die Gesprächsgruppe wäre gar nichts für sie, aber Tanztherapie. Später, in dieser erwünschten Gruppe, war es wieder nichts für sie. Eigentlich wüsste sie gar nicht, was sie in der Tagesklinik solle, der Entlassungstermin jedoch war ihr viel zu früh angesetzt. Durch unentschuldigtes Fehlen provozierte sie dann eine vorzeitige Entlassung.

Derartige Verhaltensweisen gelten als unerwünscht, sie stören den "normalen" Verlauf der Therapie. Mehr als einmal sieht man sich in Interaktionen ver-wickelt, handelt bevor man reflektiert bzw. reflektieren kann. Strukturell unterscheiden sich die gerade geschilderten Beispiele und SANDLERs 'Zuschieben des Päckchen Taschentücher' nicht. Der Patient spricht nicht über ein Thema, drückt nicht Innerseelisches sprachlich oder gestisch aus, sondern das THEMA ist das, was zwischen Patient und Therapeut geschieht, sich "im INTERAKTIVEN VOLLZUG realisiert." (Streeck 2002, 255)
Solch ein Patient hört oft gar nicht auf das, WAS der Therapeut sagt, "was er inhaltlich mit Worten ausdrückt, sondern WIE er sich äußert". Er verhält sich so, als wolle der Therapeut ihn – jenseits dessen, was er mitteilt – "kontrollieren, ihn zu etwas drängen, ihn beschwichtigen, ihm seine Wahrnehmung streitig machen oder ihn verführen." (
ebd.) 
Entsprechend verhält er sich dann, zieht sich zurück, ist empört oder antwortet mit verführerischen Gesten. Sein eigenes Sprechen hat oft nicht den Zweck, etwas MIT-zu-TEILEN, sondern etwas zu BEWIRKEN, seinerseits zu kontrollieren, abzuwehren, zu provozieren oder zu verführen.

5. Kommunikation als "gemeinsame Hervorbringung"

In therapeutischen Dialogen – besonders im Gegenübersitzen – ist der Therapeut selten nur teilnehmend-empathischer Beobachter, viel häufiger Akteur einer gemeinsamen Inszenierung. Gerade im nicht-sprachlichen Verhalten zeigt sich eine Wechselseitigkeit, die kaum in eindeutige Aktionen und Re-aktionen auflösbar ist. 

"Hier »antworten« Patienten noch auf feine körperlich-gestische Elemente der Äußerungen des Analytikers, und umgekehrt reagiert auch der Therapeut auf unterschwellige gestische Verhaltensweisen seines Patienten, ohne es selbst zu bemerken". (ebd., 265

Im gerade skizzierten Fall der Patientin (2. Beisp.): Welchen Einfluss hatten ihr "herablassender" Blick, die "abfällige" Gestik und ihr "emotionsarmes" Sprechen auf die Entscheidung, sie sofort zu entlassen bzw. später, dringlich – oder zudringlich? – auf kleine Erfolge hinzuweisen? 

"Ein körperliches Verhalten des Einen zieht ein gestisches Verhalten des Anderen nach sich. Beine, die sich bewegen, während der Therapeut vom »in Gang kommen« spricht, induziert ähnliche Bewegungen beim Gegenüber; Selbstberührungen und Gesten der »Selbstpflege« beantwortet der Andere mit korrespondierenden Gesten". (ebd.) 

Patient/in und Therapeut/ in »BE-HANDELN« sich gegenseitig. Die Bestimmung einer eindeutigen "Interpunktion der Kommunikation" verdankt sich möglicherweise erst einer nachträglichen (Re-)Konstruktion. 
Szenische Verstrickung und wechselseitige Be-Handlung "ergänzen" nicht einfach das klassisch analytische Selbstverständnis, sondern stellen es durchaus in Frage. STREECK tritt pointiert für ein "interpersonelles" Verständnis der Therapiesituation ein und befindet sich damit in einem Theorienstreit, der insbesondere durch die post-kohutianische Selbsttpsychologie ausgelöst wurde.(
9) Unter den Titeln "Intersubjektivität" und "Postmoderne" wird – besonders in der amerikanischen Diskussion – eine Neubestimmung des Verhältnisses von Interaktion und Deutung konzeptualisiert, die mit (sozial)-konstruktivistischen Argumenten auch die wirklichkeits-definierende Rolle des Analytikers zu depotenzieren sucht. Wir können diese Diskussion hier nicht weiterverfolgen. (10)

STREECK favorisiert ein INTER-PERSONELLes, kein INTER-SUBJEKTIVes Verständnis der therapeutischen Situation, um sich von den selbstpsychologischen Intersubjektivitätsvertretern abzugrenzen. Diese – z.B. STOLOROW et.al. – definieren das Selbst in folgender Weise: 

„Das Selbst (...) ist eine innere seelische Struktur, durch die das Selbsterleben Kohärenz und Kontinuität erfährt und kraft derer das Selbsterleben seine charakteristische Form und dauerhafte Organisation annimmt. Wir fanden es wichtig, zwischen dem Konzept des Selbst als seelischer Struktur und dem Konzept der Person als ein sich erlebendes Subjekt und Verursacher seiner Handlungen scharf zu unterscheiden. Während das SELBST-ALS-STRUKTUR tatsächlich in den Bereich psychoanalytischer Forschung fällt, liegt der ontologische Begriff der PERSON-ALS-HANDELNDE unserer Ansicht nach jenseits dieses Bereichs“. (STOLOROW 1996, 34)

Die Trennung von SELBST-als-Struktur und PERSON-als-Handelnde würde aber gerade alle Themen ausschließen, über die (anfänglich) nicht gesprochen, sondern die IM HANDLUNGs-VOLLZUG REALISIERT werden – denken Sie an unsere letzten Klinikszenen. STREECK geht noch einen Schritt weiter, indem er den interaktiven KONTEXT betont, auf den die Interaktionspartner in Verständigungsprozessen notwendigerweise zurückgreifen. Nehmen wir ein Beispiel (Streeck 2002, 267):

Wendet der Zuhörer - in einem Gespräch von Angesicht zu Angesicht – seinen Blick vom gerade Sprechenden ab, so "behandelt der Sprecher dieses Verhalten meist als Entzug von Aufmerksamkeit. Er setzt (nun) Mittel ein, mit denen er die Aufmerksamkeit des Anderen zurückgewinnt. Das heißt aber nicht, daß die Abwendung des Blickes für sich genommen Aufmerksamkeitsentzug bedeutet". Der Sprecher deutet das Verhalten als sei es Entzug von Aufmerksamkeit. Etwas ALS etwas verstehen geschieht nur aus dem Gesprächs-KONTEXT heraus (11), d.h. Erfahrungen mit dem Gegenüber: Äußerungen, Gesten, Körperhaltung etc. Gleiches gilt für Erfolg oder Misserfolg des anschließenden, Aufmerksamkeit hervorrufenden, eigenen Verhaltens. 
"Die Bedeutung der Blickabwendung eines Hörers im Kontext von Äußerungen eines Sprechers als Aufmerksamkeitsentzug wird somit von den Gesprächsteilnehmern gemeinsam konstituiert. Das aber ist etwas anderes als wenn man sagt, daß Blickabwendungen in Gesprächen Aufmerksamkeitsentzug bedeuten." 
Den Sinn oder die Bedeutung des Blickverhalten können wir nicht – in Analogie gesprochen – einfach einem Gesten-Lexikon entnehmen; für sich hat es – wie viele andere Körperregungen – keinen bzw. einen vieldeutigen Sinn. Ist der Patient übermüdet; oder ist er ganz aufmerksam, aber schämt sich; ist er schizoid und Blickabwendung eher die Regel; hängt mir ein Krümel im Bart und der Patient empfindet das als peinlich?

Die Kontextabhängigkeit sprachlicher Äußerungen ist uns vielleicht vertrauter (Streeck 2002, 259): "Hast Du den schon gesehen?" – eine Äußerung, die für sich, wenn ich gerade in ein Gespräch hineinkomme, sehr vieldeutig ist. Den Beteiligten ist die Bedeutung klar, da gerade über einen neuen Film gesprochen wurde.
KONTEXTE werden immer von innen – den Beteiligten – definiert, d.h. sozial ausgehandelt und sind somit von – äußerlich definierten – SITUATIVEN Umständen zu unterscheiden (vergl. ebd.). Ob z.B. das kurze Gespräch mit einer Patientin auf dem Flur als eine therapeutische Situation verstanden wird, beantwortet sich im Gespräch zwischen beiden und nicht darin, ob es zum festgelegten Termin im Therapiezimmer auf den zugewiesenen Plätzen stattfindet. 
Lassen Sie uns – zur Orientierung – die bisherigen Überlegungen noch einmal in STREECKs Worten zusammenfassen:

"Nicht-sprachliches Verhalten einerseits und Worte andererseits sind beides nur Teilaspekte kommunikativen Handelns. Sie interpretieren sich wechselseitig (…), drücken aber nicht jeweils verschiedene kontextunabhängige Inhalte aus. Gespräche, auch das »Gespräch, in dem die psychoanalytische Behandlung besteht«, sind soziale, interpersonelle Ereignisse, und auch hier sind Sprache, körperlich-gestisches Verhalten und somatische Prozesse miteinander verschweißt". (ebd., 259f )

6. 'Sequentielle Organisation sozialer Handlungen'

In sozialen Situationen interagieren wird nicht nur zugleich sprechend und handelnd, wobei mal der eine, mal der andere Aspekt als Hintergrundmusik fungiert; Interaktionen zeichnen sich auch durch implizite NORMATIVE ERWARTUNGEN aus; Erwartungen, die sich aus der Struktur, der Regelhaftigkeit der Interaktion, nicht einseitig aus der Struktur des Patienten oder des Therapeuten herleiten.
Auf eine »Frage« erwartet der oder die Fragende eine »Antwort«; auf einen »Gruß« einen »Gegengruß«. Solche BASISREGELN der KOMMUNIKATION bzw. Interaktion sind den Beteiligten nicht explizit bewusst; ihre Geltung spüren wir jedoch eindringlich, wenn es zu Störungen kommt: meine Frage nicht beantwortet, mein Gruß nicht erwidert wird. Wer nicht antwortet oder zurückgrüßt muss – und wird zumeist – dieses Verhalten rechtfertigen: "Oh, ich hab' Ihre Frage gar nicht gehört"; "Ach, ich hab' Sie gar nicht gesehen".(
12)
Stellen Sie sich aber vor, sie grüßen im Fahrstuhl einen weitläufigen Bekannten mit den Worten "Hallo, wie geht’s?" und er antwortet empört: "Was geht Sie das denn an; meine Befindlichkeit ist doch meine Sache, ich muß mich doch vor Ihnen nicht rechtfertigen!".(
13) Die soziale Erwartung, gemäß den Regeln für eine "informelle Begrüßung" wurde hier ebenso enttäuscht. 
STREECK spricht mit Blick auf die Handlungsabfolge von einer "SEQUENTIELLEN ORGANISATION SOZIALER HANDLUNGEN", das meint: 

"Indem die eine Person eine Handlung durchführt, produziert sie eine Verpflichtung für die andere Person, eine bestimmte nächste Handlung zu vollziehen. Derartige basale prozedurale Regeln (…) ermöglichen den Beteiligten, ihr Miteinander kooperativ abzuwickeln (…)". (Streeck 1998a, 55)

Denken Sie an die Szene, die SANDLER berichtete, wo er durch den Frageklang der Patientenäußerungen ins vermehrte Reden kam; nicht-bewusst folgte er der Norm bzw. sozialen Regel, Fragen zu beantworten. STREECK erzählt ein komplexeres Beispiel (ebd., 48f):

Eines Tages fiel ihm auf, er öffnete einer Patientin häufiger als anderen die Tür. [Das Zimmer ist so geschnitten, daß nach der Verabschiedung die Patienten selbst die Tür öffnen und er sie später schließt]. Diese Patientin nun verlangsamte kurz vor dem Ausgang fast unmerklich ihre Schritte, der Therapeut trat hinzu und öffnete – nicht immer, aber häufig – die Tür. 
Zu einigen Stunden kam die Patientin missmutig, blieb schweigsam und abweisend. Einmal erschien sie empört und beschwerte sich darüber, "daß ich ihr nicht die Tür geöffnet hätte. Ich habe sie wie ein kleines Mädchen behandelt, das nicht beachtet wird, statt als Frau, der man die kleinen Ehrerbietungen des Alltags entgegenbringt".
Mit kaum merklichen Gesten – der Verlangsamung ihrer Schritte und einem kurzen Zögern – hatte die Patientin den Therapeuten zu einer Anschluss-Handlung veranlasst. Sehr spannend ist nun an dieser Szene die Verknüpfung von "regelbezogener Interaktion" und "unbewusstem Wunsch"; ineins eine Verschränkung von äußerer und innerer Realität. 

In der Handlungs- bzw. Bewegungs-Sequenz von Patientin und Analytiker konstituiert sich die Regel einer "höflichen Verabschiedung" und somit der SINN einer sozialen GESTE. Zugleich ist diese Geste ein VEHIKEL, den intra-psychischen WUNSCH der Patientin nach "Anerkennung als Frau" zu realisieren. Die Patientin spricht – zumindest anfänglich – nicht über den Wunsch; noch symbolisieren "nicht-sprachlich" ihre Bewegungen »für sich« das Intra-Psychische, sondern der Wunsch realisiert sich im interaktiven VOLLZUG. Dass die implizite Erwartung der Patientin an das "Abschiedsritual" nicht immer erfüllt wurde, lässt sich – sieht man den Fortgang der Therapie – als eine Bedingung benennen, die ihr die Bewusstwerdung des Wunsches ermöglichte.
Es zeigt sich hier nicht nur die Produktivität sozial-interaktiver Mikrokrisen, analog dem, was E.S.WOLF (
1996) über Mikrotraumata in der Analyse ausführt; besonders bedeutsam sind die Ausführungen mit Blick auf die erwähnten Patienten mit Persönlichkeitsstörungen. In ihrer Lebensgeschichte haben sich traumatisierende Interaktionsregeln etabliert (14), denen sie immer noch folgen bzw. die ihr Verhalten – in Abwehr und Vermeidung – indirekt bestimmen. Mit subtilen Gesten und Körperreaktionen aktualisieren sie Interaktionen, die zu "missbrauchenden", "vernachlässigenden", "ausbeuterischen" Beziehungen »PASSEN«. (Streeck 2002, 268)

Aktualisierung und Passung geschehen in der unbewussten, aber gezielten sprachlich-gestischen Beeinflussung der Verhaltensmuster des Anderen. Gerade hier ist das Sprechen – grob skizziert – weniger semantisch, denn kausal relevant. Der Abwehrmodus der projektiven Identifizierung zeigt sich dergestalt häufiger als interaktiver Vollzug und weniger als innerseelischer Vorgang.

Blicken wir noch einmal zurück auf die Themen sprachlichen und nicht-sprachlichen Verhaltens, Selbst-als-Struktur und Person-als-Handelnde, Kontextabhängigkeit von Interpretationen sowie der Normen interaktiver Vollzugswirklichkeit, so müssen wir auch unsere Konzepte des UNBEWUSSTEN überdenken.
Neben dem klassisch-analytischen DYNAMISCHEN UNBEWUSSTEN – worauf wir hier nicht näher eingehen – ist immer öfter vom KOGNITIVEN UNBEWUSSTEN die Rede (
15); ebenso sind die leiblichen Vollzüge unserer "Skills" nicht bewusst (16). Die Basisregeln von Interaktion und Kommunikation, die Konstitutionsprozesse sozialer (Vollzugs)-Wirklichkeit könnten dann – analog – Ausdruck eines SOZIALEN UNBEWUSSTEN sein. Auch sie sind eher lateral im Verlust ihrer Selbstverständlichkeit als im direkten Zugriff erkennbar.

7. Therapeutischer Ausblick

Für die PatientInnen leidvoll und für die Therapie besonders schwierig ist bei all dem Gesagten der Umstand, dass "möglicherweise (…) frühe vorsprachliche, körperlich vermittelte Interaktionsformen und KÖRPERNAHE INTERAKTIONSREPRÄSENTANZEN (...) getrennt von späteren, sprachlich-symbolisch repräsentierten Erfahrungen aktiviert werden. Ihre Aktualisierung geschieht nur in der Interaktion, in Inszenierungen, da sie nur präverbal, im prozeduralen Gedächtnis, hinterlegt sind.(17) Weder erinnerbar, noch sprachlich formulierbar, müssen diese Interaktionsmuster (re)-inszeniert werden. 
Therapeutisch sind wir damit aber nicht bei der klassisch-analytischen Interpretation, denn das Argument der Mitbeteiligung und Verwicklung des Therapeuten in diese Inszenierungen sowie die häufige Nachträglichkeit der therapeutischen Reflexion bleibt davon unberührt. Die soeben beschriebenen Interaktionsmuster müssen immer wieder in Szene gesetzt werden, bevor sie – nach etlichen Wiederholungen – sprachlich-symbolisch verarbeitet werden können. Der äußeren VOLLZUGSWIRKLICHKEIT korrespondiert erst dann eine INNERE WIRKLICHKEIT.
Das therapeutische Arbeiten in und mit diesen Inszenierungen sieht sich besonderen Herausforderungen und Gefahren gegenüber. Der neutrale, abstinent analytische Gestus, dem das Agieren ein Greuel wäre, sieht sich früher in Inszenierungen verstrickt und von subtilen, nicht-sprachlichen Gesten verführt als er ahnt. Im schlimmsten Fall liefert er sich – gerade durch das Beharren auf Neutralität – seinen Gegenübertragungsimpulsen umso unreflektierter aus.

STREECKs – auf das Krankenhaus bezogene – eingängige und hilfreiche Unterscheidung (Streeck 1998) von VERTIKALER, intra-psychischer  und HORIZONTALER, interaktiver DIMENSION, bleibt - auf dem Hintergrund der bisherigen Ausführungen - ein grobes Raster. Wo Terminabsprachen, Pünktlichkeit, medizinische Untersuchungen, Gruppenverhalten; alle "Rahmenbedingungen" des Settings zum inszenierten Thema werden können, müssen der oder die Therapeutin »antworten«. 
Neben den "emotional korrigierenden Erfahrungen" gibt es auch "normativ" korrigierende, zumindest derart, daß Patienten erfahren, welche "Folgen" ihre "Beziehungsgegenwart" hat. "Der Patient kann diese Folgen an der ihn selektiv vor Augen geführten Subjektivität des" Therapeuten "ablesen".(
18)

Mehr noch: das ganze Team ist in die Inszenierungen einbezogen
Da viele Patienten ihre SYMPTOMATIK nicht einfach (
19) "in sich haben", sondern 
  a) mit Hilfe der TherapeutInnen und des Teams "gemeinsam hervorbringen" und dies 
  b) nicht nur "emotionale Turbulenzen", sondern sehr oft "normative Selbstverständlichkeiten"
     betrifft,  wird die Kohärenz des Teams oft auf eine harte Probe gestellt. Patienten führen uns manchesmal in soziale "Experimente", rütteln an unseren kommunikativen Selbstverständlichkeiten, deren Mechanismen und Geltungsanspruch uns so erst in der "Krise" bewusst werden.
Aber wie heißt – etwas variiert – die psychoanalytische Devise: HEILEN und FORSCHEN. Und die Selbst-Erforschung gehört unabdingbar dazu.

Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.

Anmerkungen

* ) Vortrag im Rahmen der Weiterbildung in der Abteilung für Psychotherapeutische Medizin (Ltg.: Dr. med. E. Schiffer) am CKQ: Christliches Krankenhaus Quakenbrück – 3 / 2003.
2
) Vergessen wir nicht, dass Freud als Neuroanatom begann und sein psychologisches Modell des "Psychischen Apparats" – zumindest nach Ansicht vieler Interpreten – Platzhalterfunktion für spätere naturwissenschaftliche Präzisierungen hatte.
3) Balint, M. 1973, 157; als Beispiel für ein "Now Moment" i.S. D.Sterns, vergl. Süsske 2002
4) McLaughlin 1992, 132ff
5) Es gibt natürlich Situationen bzw. Beziehungsmuster, wo wir Aspekte des Entzugs gerade wünschen; ohne den Blick des/der Anderen fühlen wir uns weniger kontrolliert und können ggf. freier sprechen oder auch etwas verschweigen. Wer lügt, meidet oft den Blickkontakt.
6) Das gilt für eine psychologisierende Lesart von Sprache; Sprache als "soziale Tatsache" scheint mir – im Unterschied zu Soziologen, Sprachwissenschaftlern und Philosophen – nicht die spontane Interpretation von TherapeutInnen zu sein.
7) Man denke nur an die Tradition der Sprechakttheorie (Austin, Searle) oder Roy Schafers Konzept einer Handlungssprache für die Psychoanalyse. Entwicklungspsychologisch gehen den symbolisch-sprachlich gebundenen Konzepten "action-thoughts" voraus. Dieser ganze Aspekt einer Differenzierung des Symbolverständnisses und der Theorien zur Entwicklung der Symbolisierung bleibt hier unthematisch bzw. einer späteren Publikation vorbehalten.
8) Ders. 1970, hier dargestellt nach Voigt 1997, 120f
9) Hartmann & Milch 2000, 93) unterscheiden drei gegenwärtige Strömungen der Selbstpsychologie: die klassische (E.S.Wolf u.a.), die intersubjektivistische (Stolorow u.a.) und die motivationstheoretische (J.D.Lichtenberg u.a.)
10) vergl. Friedman 1995, Purcell 1995 und die Diskussionen in Psyche - Z Psychoanal 53, 1999,Themenheft 9/10 Therapeutischer Prozess als schöpferische Beziehung
11) Das Konzept von Text und Kontext« ließe sich auch phänomenologisch als »Thema und Horizont« interpretieren, man muss es ja nicht transzendentalphänomenologisch interpretieren; wir denken eher an Alfred Schütz und Maurice Merleau-Ponty.
12) Dabei ist der Wahrheitsgehalt der Rechtfertigung nicht das Entscheidende, sondern nur die Rechtfertigung selbst. 
13) Harold Garfinkel – Begründer der Ethnomethodologie – entwickelte eine Reihe höchst spannender "Krisenexperimente", um aus den Abweichungen und Störungen, die Basisregeln der Kommunikation zu erschließen; vergl. Weingarten u.a. (Hg.) 1976, AG Bielefelder Soziologen (Hg.) 1973.
14) Den Theorien der symbolisch vermittelten Interaktion, die von der "Einigung" der Mitglieder auf die Regeln ihrer Handlungsorganisation ausgehen, ist oft vorgeworfen worden, sie bewegten sich in einem idealisierten Feld, das frei von Macht und Gewalt sei. Das Konzept der "Macht" im Foucault'schen Verwendungssinn wäre hier vielleicht eine sinnvolle Ergänzung.
15) Vergl. z.B. Schüßler 2002
16) Ob sie unter die Regie des kognitiv Unbewussten fallen wäre eine Frage der Hintergrundstheorie; different z.B. die Leib-Phänomenologie in der Nachfolge Merleau-Pontys (B.Waldenfels u.a.)
17) Streeck 2002, 268 Er spricht in diesem Zusammenhang selbst indirekt vom Prä-symbolischen und hierarchisiert nicht-sprachliches und sprachliches Verhalten. Seine anfängliche Kritik an letzterer schränkt sich somit ein. Was ihn am proto-neurologischen Modell störte, war seine generelle Geltung. Im Text selbst kommt dies aber nicht deutlich zum Ausdruck, wird im obigen Zitat durch das "möglicherweise" sogar noch in der Schwebe gehalten.
18) Streeck 1994, 119; möglicherweise würde Streeck heute viele Formulierungen dieses Textes nicht mehr so stehen lassen.
19) Es könnte im Rückblick auf die Ausführungen der Eindruck entstehen, man wolle (pathologische) Struktur in Interaktion auflösen. So weit geht wohl kein Vertreter, aber manches, was in räumlichen Metaphern »im« Patienten fest-gesteltt wird, ist interaktiv her-gestellt.  Davon noch einmal unterschieden wäre die Kritik am "räumlichen" Modell des Bewusstseins überhaupt. Dies erforderte eine eigene erkenntniskritische Untersuchung.

Literatur

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STREECK, U. (2000) Szenische Darstellungen, nichtsprachliche Interaktion und Enactments im therapeutischen Prozeß, in: Ders. (Hg.) 2000a, 13-55
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Streeck, U. (1998) Persönlichkeitsstörungen und Interaktion. Zur stationären Psychotherapie von Patienten mit schweren Persönlichkeitsstörungen, Psychotherapeut 3-98, 157-163
STREECK, U. (1998a) Verborgene Wege der Wunscherfüllung, in: Boothe, B./ R.Wepfer/ A.v.Wyl (Hg.) Über das Wünschen. Ein seelisches und poetisches Phänomen wird erkundet, Göttingen 1998, 48-66
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Balint, M. (1973) Therapeutische Aspekte der Regression, Reinbek (Orig. London 1968)
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Lorenzer, A. (1970) Sprachzerstörung und Rekonstruktion, Frankf./M.
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Schüßler, G. (2002) Aktuelle Konzeption des Unbewußten – Empirische Ergebnisse der Neurobiologie, Kognitionswissenschaften, Sozialpsych. und Emotionsforschung, 
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Stolorow, R.D. et.al. (1996) Psychoanalytische Behandlung. Ein intersubjektiver Ansatz, Frankf./M.
Süsske, R. (2002) Diesseits der Worte. Daniel N. Sterns Forschungen zum 'impliziten Beziehungswissen' in Therapieverläufen, Überarbeitete Fassung eines Vortrages in der Weiterbildungsveranstaltung der Abteilung für Psychotherapeutische Medizin am Christl. Krankenhaus Quakenbrück, Web: http://www.text-galerie.de/suesske_stern.htm  bzw. http://www.text-galerie.de/pdf/d_stern.pdf  
Voigt, B. (1997) Bewegungsanalyse und nonverbale Bewegungsinterpretation, in: S.Trautmann-Voigt/ B. Voigt (Hrsg.) Freud lernt laufen, Frankf./M. 1997
Weingarten, E. u.a. (Hg.) (1976) Ethnomethodologie. Beiträge zu einer Soziologie des Alltagshandelns, Frankf./M.
Wolf, E.S. (1996) Theorie und Praxis der psychoanalytischen Selbstpsychologie, Frankf./M.


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erstellt: 19.03.2003


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